FRANKFURT AM MAIN – Stadtbiotop für Fortgeschrittene

FRANKFURT AM MAIN – Stadtbiotop für Fortgeschrittene

Der Lebenszyklus von Zugereisten, die sich das anspruchsvolle Ziel gesetzt haben, einmal ‚Frankfurt Urban Professionalsʼ[1] zu werden – die einzige Spezies, die in der HAMMER-Metropole am Main ihre nachhaltige Widerstandsfähigkeit bewiesen hat –, beginnt häufig mit: „Ich drehʼ hier gleich durch!!“, kann sich weiterentwickeln zu: „Na ja…“ und mündet, wenn’s gut geht, im: „Es will mer net in de Kopp ʼenei, wie kann nur eʼ Mensch net von Frankfort sei“ des Frankfurter Mundartdichters Friedrich Stoltze, der auf seinem Brunnen in der neuen Altstadt tagein, tagaus kopfschüttelnd damit fertigwerden muss, von depperten Touris mit Marxens Karl verwechselt zu werden.

Starten Sie Ihre Frankfurt-Exkursion nicht vor dem Römer oder an der Paulskirche, denn dort werden Sie vor lauter lauten AsiatInnen nichts von der Stadt entdecken. Frankfurt-NewcomerInnen legen wir vielmehr ans Herz, sich in Seckbach auf dem Lohrberg auf eine Bank zu setzen, andächtig an einem Glas ‚Lohrberger Hang, Riesling Spätleseʼ zu nippen und einen langen, sinnenden Blick auf den oberen Teil von Frankfurts himmelstrebender City zu werfen.

Merke: Aus der Ferne sieht man manches besser.

Von oben herab

Wenn im Laufe dieser Betrachtung bei Ihnen in 185 Metern Höhe ‚Good vibrationsʼ ankommen, dann haben Sie den Lackmustest auf Frankfurt-Kompatibilität zumindest initial bestanden, und es besteht eine gewisse Hoffnung, dass Sie Frankfurt am Main, dem bärenstarken Verkehrs- und Finanzzentrum der Bundesrepublik Deutschland, gewachsen sein könnten. Sollten Sie sich allerdings, aus welchen Gründen auch immer, außerstande sehen, den Lohrberg zu erklimmen, dann schlagen wir Ihnen vor, sich den Ihnen hiermit vorgelegten Ratgeber für die Mainmetropole zu Gemüte zu führen und sich mit seiner einfühlsamen Hilfe der Stadt langsam anzunähern. Obwohl wir dennoch insistieren müssen, dass die Lohrberg-Variante etwas Einzigartiges hat. Sie könnten dort oben in der Gaststätte, wenn Sie ohnehin schon mal da sind, gleich mal den ersten Handkäs‘ mit Musik Ihres Lebens riskieren. Sehr guten gibt es übrigens auch im Ausflugslokal ‚Zur Käsmühleʼ in Offenbach-Bieber. Dort sitzt man ganz nett – hat allerdings keinen Blick auf Frankfurt. Dafür auf das Stadion am Bieberer Berg von hinten. Bezüglich dieses Heimstadions der Offenbacher Kickers sind Fans von Eintracht Frankfurt seit ewigen Zeiten der Meinung, dass das Ding überdacht gehört. Warum? Weil gemäß deutscher Rechtslage Glücksspiele im Freien verboten sind.

Leitsatz Nr. 1: Über niemanden feixt der Frankfurter lieber als über den Offebäschä.

Stadtmarketing kann ja jeder

Es nicht der Anspruch dieses Texts, all dasjenige abzuarbeiten, was Frankfurt am Main einzigartig macht. (Reklametexter huldigen der unverwechselbaren Wesensart des zu preisenden Objekts gern mit dem prickelnden Neologismus ,Alleinstellungsmerkmalʼ – semantische Stromschnelle im Lesefluss, wobei das gewünschte Ziel Singularität dieses Ausdrucks durchaus verfehlt werden kann, wenn sich KonsumentInnen dabei stirnrunzelnd fragen: „Habʼ ich das nicht schon mal irgendwo gelesen?“) Dieser City Guide lacht schallend über eventuelle Forderungen nach Vollständigkeit und/oder Objektivität; er fokussiert sich stattdessen vorsätzlich auf eine durchgehend parteiische Gefühlslage und völlig willkürliche Gewichtung der Betrachtungsgegenstände.[2] Beispielsweise wurde die manche Leute tief beeindruckende europäische Luftverkehrsdrehscheibe namens Frankfurt Airport als nicht weiter erwähnenswert klassifiziert, da der bei der ,Generation Easy Jetʼ höchst beliebte Low-Cost-Sorgenfreitourismus, der aus Jux und Tollerei ganze Stadt- und Landregionen verwüstet, in den Augen des Autors nichts außer Verachtung verdient; Hauptsache, Ihr habt Spaβ? Wir kannten mal jemanden in Zeilsheim, der hätte zu solchem Schwachsinn gesagt: „Es sieht bees aus!“

Disclaimer: Dieser Text würde es sich entschieden verbitten, auf Sponsoring jedweder Art durch die Frankfurter Tourismus+Congress GmbH angewiesen (gewesen) zu sein.

Für eine Handvoll Dollar

Am Ende des Textes wird dann etwas beschworen, was längst vergangen ist: der Geist der alten Frankfurter Hochschule, an der Wissenserwerb einen Raison d’Être per se darstellte, dessen ökonomische Nutzbarmachung im Sinne einer unverzüglichen Profitmaximierung zumindest in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften nicht als vordringliche Aufgabe der Alma Mater angesehen wurde. Und während das ehemalige Hauptgebäude der Goethe-Universität an der Bockenheimer Warte in stiller Melancholie versinkt, versucht das gestylte ‚Netzwerk der Exzellenzʼ im Campus Westend, der geschätzten Kundschaft allerlei Bachelor- und Masterabschlüsse mit Marketinggeschwätz à la ,Vision & Mission Statementsʼ anzudienen: Itʼs the economy, stupid! Danke für den Tipp – wären wir allein nicht draufgekommen.

Helm ab zum Gebet: „Verehrte Pallas Athene, Du einstmals so stolze Göttin der Weisheit und Schirmherrin der Wissenschaften, wie konntest Du nur den Schalmeienklängen des Finanzmarktkapitalismus erliegen und Dich zu seiner Hetäre machen lassen? – o tempora, o mores!“

The wild side of life

Dass Frankfurt keine Stadt ist, die viel Gedöns liebt, sondern lieber schnörkellos zur Sache kommt, merken diejenigen BesucherInnen laut und beinhart, die es direkt aus dem Hauptbahnhof in Richtung Kaiser-, Mosel- und Elbestraβe spült. Hier tobt sich Multikulti aus, dass es kracht: buntes Treiben jeder Art, Unmengen kleiner Geschäfte und Restaurants aus aller Herren und Damen Länder. Nicht zu verachten die bemerkenswerte Dorade für läppische 9 Euro in ‚Alims Fischimbissʼ; achten Sie auf den Fisch auf Ihrem Teller, nicht auf die Ihren Fischteller umgebenden Räumlichkeiten. Falls Sie heiße Investmenttipps brauchen, hier laufen Ihnen mittags massenhaft Citybanker über den Weg. Nach Sonnenuntergang sollten Sie besser nicht im Bahnhofsviertel herumstrolchen; dann wirdʼs hier nämlich richtig tough, wenn Sodom und Gomorrha ihre Regentschaft antreten. Sie sollten sich in diese Gegend nur vorwagen, wenn Sie zufällig Batman heißen, den Joker suchen und/oder beiläufig testen wollen, wie hoch Ihre Halbwertzeit in Gotham City sein könnte.

Wahrschau: Im Umkreis des Frankfurter Hauptbahnhofs tritt mit Heraufziehen der Nacht ein alter Werbeslogan der Hustenbonbonmarke Fishermanʼs Friend in Kraft: “When they’re too strong, you’re too weak!“

Hibbdebach die Macht

Nördlich des Mains, in Frankfurt ,hibbdebachʼ genannt, duldet die an den Wolken kratzende Silhouette des Stadtzentrums keinerlei Widerspruch und demonstriert unübersehbar, wer hier an den Schalthebeln der Macht sitzt und wer das Oberkommando führt. Blick auf die City-Skyline gibtʼs – am besten nach ausgiebiger Kulturaufnahme am Museumsufer (siehe unten) – bei gutbürgerlichem Essen zu bürgerlichen Preisen in der Lokalität des Frankfurter Rudervereins nahe der Friedensbrücke. Oder ein Stück weiter flussaufwärts in Richtung Offenbach, das kein(e) FrankfurterIn jemals freiwillig betreten würde, vom angesagten ‚Hafenlokal Oostenʼ nahe der Europäischen Zentralbank an der ‚Weseler Werftʼ: unverstellte Sicht auf Downtown Frankfurt.

Prognose: Unter Antizipation der weiteren Brexit-Entwicklung erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Dagobert Duck AG noch weitere Geldspeicher an den Main pflastern wird.

Dribbdebach die Kultur

Südlich des Mains, ,dribbdebachʼ, wird am Museumsufer, das so um die 15 Museen unmittelbar am Main umfasst, Kultur mit vollen Händen ausgeteilt. Dass man hier unbedingt ins Städelsche Kunstinstitut gehen sollte, will man nicht als kultureller Blindgänger gelten, das weiß ja schließlich jeder. Im Hinblick auf die lange und differenzierte jüdische Geschichte und Kultur in Frankfurt empfiehlt sich gegenüber von dribbdebach, ergo (wieder) in hibbdebach, ein Besuch des Jüdischen Museums im Rothschild-Palais am Untermainkai 14/15. Die Entdeckung jeder Menge weiterer kultureller Highlights in Frankfurt bleibt eigener Unternehmungslust und Ausdauer vorbehalten. Es gibt jedenfalls mehr als genug davon; sowohl dribbde- als auch hibbdebach.

Denksportaufgabe: Was war zuerst in Frankfurt – die Kohle oder die Kultur?

Erbarme, die Hesse komme!

So sicher man das Amen in der Kirche hört, so sicher wird derjenige nach Sachsenhausen geschickt, der sich an das bärbeißige Frankfurter Nationalgetränk in den dickwandigen geriffelten Gläsern heranwagen will. Wenn schon, dann aber bitte nicht im Zentrum des Amüsierviertels, wo sich an Wochenenden Horden kreischender Noch-JunggesellInnen aus Vogelsberg und Wetterau mit dem Schlachtruf: „Hopp, hopp, hopp – Schobbe in de Kopp!“ aufs Grauenvollste die Kante geben, den Touris kurzgebratene Rouladen als Rumpsteaks zu Filetpreisen andreht werden und einem angesichts der an ihren Tischständern resigniert vor sich hin welkenden Laugenbrezeln die traurige Gewissheit, dass das Leben nur ein Übergang ist, tief ins Herz greift. Wenn schon Äbbelwoi, dann ‚Zu den 3 Steubernʼ in der Dreieichstrasse. Aber subito, denn der Wirt geht auf die 90 zu, und Nachfolger sind nicht in Sicht. Handkäsʼ flambiert gibt’s im ‚Schuch’sʼ in Alt Bornheim; wenn’s denn unbedingt die gentrifizierte Ausführung dieser urhessischen Spezialität sein soll.

Wortkunde: Sagen Sie nie ,Äpplerʼ, wenn Sie sich eigentlich ,Stöffscheʼ bestellen wollten. Es sei denn, es stört Sie nicht, sich am Main als Vollpfosten zu dekuvrieren.

Wohlgeschmack fürs Volk

Wer in Frankfurt isst, muss ‚Grieʼ Soßʼ kennen, die aus sieben frischen Kräutern besteht. Will man sie selbst machen, kauft man die Zutaten in der Kleinmarkthalle – Frankfurts bestem Restaurant gemäß Wolfram Siebeck. Unvergessen die Anpreisung eines Butzbacher Bäuerleins, das orthografisch alles auf eine Karte (bzw. Tafel) gesetzt hatte: ‚Heute frische Oberschienenʼ. Dieser Anbauversuch wurde offensichtlich vom Frankfurter Verkehrsverbund gesponsert.

Für Fleischfresser: Best ‚Flaaschworschtʼ in town gibts in der Kleinmarkthalle bei Frau Schreiber. Auf dem Balkon kann man Wein trinken und von oben zusehen, wo und wie versierte Frankfurter Hausfrauen ihre Lebensmittel einkaufen.

Whoʼs who des Shoppings

Um etwas vom Glamour der bevorzugt im Vordertaunus oder in Bad Homburg siedelnden Hautevolee zu erhaschen – für die Frankfurt-Schickeria dürfte es mittlerweile auch akzeptabel sein, sich die Adresse des mit schnieken Hipster-Kemenaten gefüllten wiederauferstandenen Henninger-Turms auf die Visitenkarten drucken zu lassen –, muss man zwingend die Goethestrasse aufsuchen. Das dort feilgebotene sauteure Geraffel, das kein Mensch braucht (aber alle haben wollen), hält locker mit demjenigen der Fifth Avenue und der Bond Street mit. Weshalb hier auch gern der Jetset von der Arabischen Halbinsel und aus Shanghai shoppen geht. Und jede Wette: Sie sind noch nie von so vielen ganz entspannt im absoluten Halteverbot herumstehenden Aston Martin, Panamera Executive und Maranello-Geschossen patzig angegrinst worden wie im Bereich der Frankfurter Goethestraβe!

Überlebensratgeber für den Frankfurter Straβenverkehr: Die Wahrscheinlichkeit, dass motorisierte Verkehrsteilnehmer die allgemeinen Verkehrsregeln befolgen, verhält sich umgekehrt proportional zu ihrer Finanzkraft. Radfahrer betrachten generell und völlig unabhängig von ihrer Einkommens- und Vermögenssituation Vorschriften als für alle gültig – außer für sich selbst. KraftfahrerInnen und VelozipedistInnen fühlen sich durch das unverbrüchliche Band einer echten Asphaltkameradschaft miteinander verbunden und dokumentieren ihre hohe gegenseitige Wertschätzung, indem sie sich ausnahmslos duzen, einander so oft wie möglich mit gestrecktem Mittelfinger begrüßen und permanent versuchen, vermittels aufmunternder Scherzworte wie „blöde Sau!“, „versiffte Schwuchtel!“, „bekloppte Fahrradschlampe!“ etc. die ohnehin schon gute Stimmung auf den Straßen noch weiter zu verbessern. Fußgänger überqueren Zebrastreifen grundsätzlich bei Rot; bei Grün über die Straße zu gehen gilt in Frankfurt als uncool.

Hätten Sie mal Feuer?

Auf der Frankfurter Zeil, einer der umsatzstärksten Ladenstraβen Deutschlands, gabʼs früher das Kaufhaus Schneider. Und heute gibtʼs dort (immer noch) den Kaufhof. In diesen beiden Inkarnationen des Konsumterrors setzten am 2. April 1968 gegen Mitternacht die Polit-Pistoleros Gudrun Ensslin und Andreas Baader – inspiriert von Kommune 1 (Kunzelmann, Langhans, Teufel et al.) – ihre pyrotechnischen Fähigkeiten in Szene, um dem westdeutschen Otto Normalverbraucher, der bis zu diesen Fanalen der sich formierenden BRD-Tupamaros mehr auf „Haste was, dann biste was!“ als auf die analytische Durchdringung gesellschaftlicher Disparitäten oder die Ächtung von US Air Force-Napalmfeuerwerken über dem Mekong kalibriert war, „zum ersten Mal jenes knisternde Vietnamgefühl“ zu vermitteln, das er „bislang in einer europäischen Großstadt missen musste“ (Flugblatt der Berliner Kommune 1).

Chor der Alt-68er: „Bürger runter vom Balkon – unterstützt den Vietcong!“

Auf Spurensuche

In Bockenheim im Frankfurter Westend kann man bis heute der ‚Kritischen Theorieʼ nachspüren, von der manche vermuten, sie könnte etwas mit den Anfängen der RAF und dem bewaffnetem Kampf der Stadtguerilla gegen Ausbeutung und Imperialismus zu tun gehabt haben – andere hingegen sind fest davon überzeugt, dass sich das ,monopolkapitalistische Schweinesystemʼ den ganzen Schlamassel‚ der in den Bonnie and Clyde-Showdowns des Deutschen Herbsts 1977 kulminierte, (aus)schließlich selbst eingebrockt habe. Die Vordenker der grosso modo im Institut für Sozialforschung schräg gegenüber dem paläontologischen Kompetenzzentrum Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft entstandenen ‚Frankfurter Schuleʼ waren die Herren Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas, die damals zu Medienstars avancierten und sogar zur Hauptsendezeit im Hessischen Rundfunk auftraten. Heutzutage gibtʼs im Fernsehen um 20.15 Uhr den 1378. Tatort, oder Schwachmaten vom Kaliber Bohlen & Konsorten halten das Publikum mit dämlichstem Kasperkram bei Laune – tempora mutantur, nos et mutamur in illis!

Wenn Sie gern ins Kino gehen: Die Marx Brothers gab’s nicht nur in Hollywood. In Bockenheim hießen sie allerdings nicht Chico, Harpo, Groucho und Zeppo, sondern Teddy, Max und Jürgen.

Dialektik der Aufklärung

Wer sensibel genug ist, den Hauch von Geschichte wehen zu spüren, der begebe sich auf dem alten Bockenheimer Campus ins Hauptgebäude der Goethe-Universität und stecke seine Nase in den legendären Hörsaal VI – hier dozierte einst Professor Adorno und entwickelte seine brisante Theorie, die einiges in der Gesellschaft in Bewegung brachte. Hier hörte ihm auch fasziniert Hans-Jürgen Krahl zu, späterer Agitpropkämpfer des Frankfurter SDS, dem sie wegen seines atemberaubenden Redetalents den Nom de Guerre ‚Robespierre von Bockenheimʼ verliehen. Dieser Feuerkopf, dem der auch nicht gerade auf den Mund gefallene Rudi Dutschke rhetorisch nicht das Wasser reichen konnte,  war maßgeblich an der Anzettelung der Lebenstragödie seines akademischen Lehrers Adorno beteiligt, den die fatale Kollision seiner Kritischen Theorie mit der studentenbewegten Praxis das verzweifelte Menetekel schreiben lieβ: „Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, dass Leute es mit Molotowcocktails verwirklichen wollen?“

Fazit: Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Heimstatt der Heimatlosen

An der Bockenheimer Warte existiert seit Anfang der 1970er-Jahre eine geschützte Werkstätte, die unseres Wissens als einzige therapeutische Einrichtung der Stadt die Lizenz besitzt, alkoholische Getränke in unbegrenzten Mengen auszuschenken. In dieser stark anarchistisch angehauchten Destille namens Doctor Flotte ist eine seltsame verlorene Generation zu Hause. Nach einem Pächterwechsel im September 2012 schrieb die Frankfurter Rundschau: „An der Theke hängen auch schon wieder die alten Gestalten, die das Doctor Flotte so einmalig machen. Seit jeher kämpfen hier Adorno und Averna um die Vorherrschaft. Das Doctor Flotte ist Hochburg des Geistes, Profitrinkertränke und Eintracht-Gaststätte in einem. Hierhin flüchtete sich die Titanic-Redaktion, wenn in den Redaktionsräumen in der nahen Sophienstraße Arbeit drohte. Hier versoffen tausende Studenten ihr Bafög, bevor sie ins IG-Farben-Excellenzcluster gescheucht wurden. Hier stieg die Eintracht ab und auf.“ Das seitens der Obrigkeit diktatorisch verhängte Rauchverbot in Gaststätten wurde von den bei Flotte Gestrandeten mit sardonischem Gelächter in Empfang genommen – und konsequent missachtet; hier wird bis heute unverdrossen weitergequarzt!

Warnhinweis: Häufige Langzeitaufenthalte im Flotte können zu akuter Entfremdung von der Außenwelt führen und Ihre Überlebensfähigkeit drauβen dauerhaft infrage stellen!

Die Nebel von Bockenheim

An einem herrlichen Herbsttag in einer anderen Zeit führte eine Gruppe fröhlicher Studenten bei Flotte hitzige Disputationen unter regelmäβiger Zufuhr stattlicher Mengen schäumender Biere, während sich die Sonne die Zeit damit vertrieb, dicke Roth-Händle-Rauchwolken bedächtig durch den Schankraum zu schieben. Einer der Diskutierenden beobachte fasziniert dieses Naturschauspiel, wobei er sukzessive zu der Erkenntnis gelangte, dass ein ‚Indian Summerʼ in Neuengland kaum malerischer sein könne. Plötzlich spürte er, wie etwas leise um seine Beine zu streichen begann. In dieser skurrilen Kaschemme namens Doctor Flotte,

  • an der Bockenheimer Warte,
  • in Frankfurt am Main,
  • der alten Freien Reichsstadt,

die sehr viel Raum für sehr viel Verschiedenes lässt, beugte sich der Studiosus unter den zum Wirtshaustisch umfunktionierten altersschwachen Nähmaschinentisch und sah direkt in die funkelnden Augen einer Wildkatze. Sie blickte ihn aufmerksam an, sagte: „miau“ und legte sich auf seinen Fuß, um ihn zu wärmen. Und als er sie sanft fragte: „Wie heißt Du denn, meine Hübsche?“, hob sie selbstbewusst ihr Haupt und schnurrte abgründig verlockend: „Frankfurt, mein Junge – ich heiβe Frankfurt am Main.“

[1] If you can make it here, you can make it anywhere.

[2] Der Autor dieser Zeilen verbrachte zwölf Jahre seines Lebens in Frankfurt am Main. Insofern ist er ein von Frankfurt beschriebenes Blatt und alles andere als neutral.

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