Lesung «Es scheint mir offensichtlich, …

Lesung «Es scheint mir offensichtlich, …

… dass hinter jedem sichtbaren Wort ein weiteres lauert!»

  • Diejenigen, die mich nicht kennen, werden jetzt seufzen: «Das fängt ja gut an!»
  • Diejenigen, die mich kennen, werden jetzt sagen: «Er fängt immer so an!»

Und wie fängt er immer an?

Rätselhaft fängt er an.

Er liebt es, sich selbst vielschichtig darzustellen.

Und seine sichtbaren Texte zeigen immer nur 50% von dem, was er eigentlich meint.

Der Rest steht zwischen den Zeilen.

Und der sichtbare Teil erscheint oft kompliziert.

Womit meine Texte Ihrem und meinem Leben erschreckend ähnlich sind.

Nur sind Sie, im Gegensatz zu mir, in der Regel nicht so vermessen, diese alltäglichen Komplikationen auch noch öffentlich auszubreiten.

Was man ja durchaus als vorlaut bezeichnen könnte.

Erste Zusammenfassung: Das Leben ist kompliziert. Meine Texte sind es auch. Wo ist also das Problem?

*

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich begrüsse sie ganz herzlich zu dieser Veranstaltung, von der zu befürchten ist, dass Sie dieselbe evtl. verwirrter verlassen werden, als Sie in ihr angekommen sind.

Denn ich werde mir erlauben, Sie in eine virtuelle Welt zu entführen – die Welt des Jan Peters. Wenn diese Welt ein Film wäre, dann wäre es mit grosser Wahrscheinlichkeit ein expressionistischer und hiesse vielleicht «Dr. Mabuse, der Spieler». Über Jahrzehnte habe ich niemanden in diese schräge Welt gelassen, bis ich dann eines Morgens im Jahr 1995 in Kaiseraugst im Kanton Aargau um 3 Uhr beschloss, die Tore zu meiner Welt voller Rätsel einen Spaltbreit zu öffnen und mit dem öffentlichen Schreiben zu beginnen.

Als ich diese epochale Entscheidung um 3 Uhr 08 meiner friedlich neben mir ruhenden Gattin begeistert mitteilte, meinte dieselbe erschreckend teilnahmslos, dass 10 Uhr sicher eine geeignetere Tageszeit gewesen wäre, um ihr solche seltsamen Nachrichten zu übermitteln.

Da wurde mir schlagartig klar, dass der Weg nach Stockholm steil, steinig und mühselig sein wird.

Es ist ein grosses und spannendes Abenteuer, öffentlich zu schreiben. Eigentlich das aufregendste und schönste meines Lebens.

*

Um meinem Hauptfehler beim Erstellen von Texten en gros et en détail, dem permanenten Anrichten eines unbeschreiblichen Chaos, zu entgehen, habe ich im Vorfeld dieser heutigen Veranstaltung eigens eine PR-Agentur gegründet. Diese Firma hört auf den schönen Namen Yasny© = «You Ain’t Seen Nothing, YetSchweizer Kompetenzzentrum für Qualitätstexte.

Diese virtuelle Firma verfolgt nur einen einzigen Zweck: Die obskuren Werke des jp dem Publikum anzudienen. Man könnte also sagen, was die Rüstungslobby für den Nationalrat ist, ist Yasny© für jp.

Und damit es den Leuten von Yasny© nicht zu langweilig wird, habe ich ihnen kürzlich den Auftrag gegeben, jp zu interviewen. Interviews haben eine literarisch-philosophische Tradition seit den alten Griechen. Zunächst hiessen sie «Dialoge» und wurden von Sokrates geführt. Das war der, der sagte, dass er wisse, dass er nichts wisse. Insofern ist er ein Seelenverwandter von mir.

Später fiel den Athenern dann nichts Besseres ein, als Sokrates zu vergiften.

Ich hoffe nicht, dass die Kaiseraugster… Aber kommen wir nun direkt zum angekündigten Interview.:

«Der Titel der heutigen Lesung entspricht dem Motto, das jp als Begrüssung auf seiner Website verwendet. Jenseits der sonst in seinen Newslettern üblichen Possenreissereien und Verwirrspielen um seine Person, seine literarische Motivation und seine Texte werden wir von Yasny© versuchen, mit jp ausnahmsweise mal ernsthaft über seine textlichen Kreationen zu sprechen. Der Anlass dieses Gesprächs war die Lesung, die am 25. April 2018 in Kaiseraugst stattfindet und deren Leitmotiv lautet: Es scheint mir offensichtlich (siehe oben).

Yasny: Wir haben ein gewisses Verständnis dafür, dass Sie es als problematisch empfinden könnten, Ihre Texte öffentlich einer qualitativen Wertung zu unterziehen. Fangen wir deshalb mal mit einer quantitativen Einkreisung Ihrer Tätigkeiten an: Mit wie vielen Wörtern haben Sie eigentlich bis jetzt das bedauernswerte Publikum heimgesucht?

jp: Da ich mir schon gedacht habe, dass Sie im Kleinen Einmaleins – vier hin, zwei im Sinn – sattelfester als in qualitativen Literaturanalysen sind, habe ich die letzten drei Wochen damit verbracht, meine gesammelten Wörter zu zählen und zu vermessen.

Im Einzelnen ergibt dies:

  • in 7,5 Büchern veröffentlicht: ca. 240’000 Wörter;
  • in öffentlichen Lesungen/Reden geäussert: ca. 80’000 Wörter;
  • in 15 Jahren Nebelspalter publiziert: 10 Satiren/Jahr = 150 Satiren à ca. 700 W. = 105’000 W.

Insgesamt also mindestens 425’000 Wörter.

Gehen wir jetzt von einer durchschnittlichen Bauhöhe der jp-Wörter von 3 Millimetern aus (Schriftgrösse 11 P., Gross- und Kleinbuchstaben gemittelt), so erhalten wir eine Gesamthöhe meiner bisher publizierten Wörter von ca. 12’750 Metern.

  • Wir können also vorläufig zusammenfassend sagen, was ich bisher geschrieben habe, entspricht dem Mount Everest und der Eigernordwand übereinandergestapelt.

Darüber, was dies für mein Leben, geschweige denn dasjenige meiner leidgeprüften Leserschaft bedeutet, sagen diese Zahlen allerdings relativ wenig aus.

Yasny: Herr Peters, wir wollen Ihnen diejenige Frage ersparen, die Sie erfahrungsgemäss regelmässig auf die Palme bringt: Woran arbeiten Sie gerade?

jp: Danke, dass Sie mir diese Frage ersparen. Derzeit arbeite ich gerade nicht an, sondern in einer Lesung, zu der mich freundlicherweise die Kulturkommission meiner Wohnsitzgemeinde Kaiseraugst in den Violahof eingeladen hat. Was die Intensität der Vorbereitungen zu diesem Event betrifft, so darf ich sagen, dass ich mich auf jede Lesung so vorbereite, als wäre sie meine erste. Was nicht heisst, dass ich wie der Ochs vorm neuen Tor stünde, sondern vielmehr, dass ich mich in die Sache hineinknie, als müsste ich das Format öffentlicher Auftritt für mich jedes Mal neu erfinden. Es wäre mir persönlich ein Gräuel – und für das Publikum eine Zumutung –, wenn ich eine Art Standard-/Patchwork-Text hätte, den ich wieder und wieder und wieder mit nur leichten Variationen öffentlich zum Besten gäbe. Noch nicht einmal Text-Module verwende ich dafür, sondern immer etwas speziell Geschriebenes, alles Unikate (von den Zitaten natürlich abgesehen). Copy/paste findet bei mir als Verfahren zur Manuskripterstellung nicht statt. Das überlasse ich gern den bedauernswerten Kollegen von der Sektion Texten im Marketing, wo das leere Stroh zahlloser Worthülsen solange erbarmungslos gedroschen wird, bis der leidgeprüfte Copywriter jämmerlich an einer Staublunge zugrunde geht. Ich weiss, wovon ich spreche, denn mehr als zwanzig Jahre war dies mein bread & butter job. Irgendwann kann man sein eigenes sinnentleertes nachhaltiges, innovatives, zeitnah resultatorientiertes… Auftragsgeschreibsel einfach nicht mehr ertragen.

Wie herrlich dagegen das freie Schreiben! Ich liebe es so sehr, dass ich sogar einen eigenen Gattungsbegriff dafür benutze: Organisches Schreiben©. Ich möchte dies hier vorn noch nicht weiter ausführen, Sie finden es im Anhang der Neuauflage meines Samuel Brüllhenne ausführlich dargelegt, ausserdem komme ich im Verlauf dieser Lesung gleich noch mal darauf zurück.

Yasny: Wie viele Lesungen haben Sie im Laufe Ihrer nunmehr 23-jährigen Schriftstellerexistenz veranstaltet?

jp: Darüber habe ich nicht penibel Buch geführt, aber an die 20 sind es sicher. Zwei davon habe ich in etwas schlechterer Erinnerung, die anderen haben alle ganz gut funktioniert. Der Erfolg steht und fällt natürlich damit, ob es mir möglichst schnell gelingt, den Funken überspringen zu lassen, denn Lesungen sind Dialoge, obwohl sie vom Setting her nicht so aussehen: Der Herr Schriftsteller thront huldvoll im Olymp, das Publikum darf erwartungs- und ehrfurchtsvoll zu ihm aufblicken. Die ersten paar Sätze werden entscheiden, ob die Distanz zwischen oben und unten überbrückt werden kann. Wenn Kafka sagt, dass ein Buch die Axt für das gefrorene Meer in uns sein müsse, dann gilt das auch für Lesungen. Sie sind ein exzellentes Mittel, die Wirksamkeit von Texten auszuprobieren; Lesungen sind bestens geeignet, Text-Prototypen auf den Prüfstand zu stellen und auf ihre Effizienz zu vermessen. Beim Schein der Mitternachtslampe kann ein Autor natürlich hoffen, dass er seinem in statu nascendi befindlichen Text die Kraft verleihen kann, beim Publikum einzuschlagen; wissen kann er es nicht, denn er hockt mutterseelenallein in seiner Schreibstube, umzingelt von seinen Wörtern, die ihn und seine Schreibkunst ständig infrage stellen. Die Lesung ist der unverfälschte Praxistest auf die Lebenstüchtigkeit seiner Geschöpfe: Man sitzt vorn, liest und hofft, das verehrte Publikum reagiere positiv. Selbst wenn es eisern schweigt, reagiert es doch immer irgendwie. Man muss allerdings lernen, diese spezielle Art der Meinungsäusserung richtig zu interpretieren: den Gesichtsausdruck, die kollektive Körpersprache – all dies formt sich zu einer Art von Schwarmgestik; wenn es einem vorn gelingt, diese Sprache zu verstehen und ggf. sogar in seine Darbietung zu integrieren, dann wird eine Lesung zu einer unglaublich spannenden Veranstaltung und einer eigenen Kunstform. Eine Art Performance: Not only the artist, but the artist and his audience are present! Die Performance und Kunst des vorn Sitzenden besteht darin, ein labiles Gleichgewicht zwischen Nabelschau und Einbeziehen des Publikums hinzukriegen. Wenn es hingegen die narzisstische Intention des Autors ist, dem Publikum mitzuteilen, dass er und nur er allein die kunstvollsten – und unverständlichsten Texte – aller Zeiten drechseln kann, dann sollte er diese Wahrheit besser den Kartoffeln im Keller verkünden als den Mitmenschen. Es sei denn, er ist ein Masochist, der aus Zurückweisung Lustgewinn bezieht. Auf jp bezogen: UNZUTREFFEND!

Yasny: Zwei Ihrer Lesungen haben Sie in schlechter Erinnerung sagten Sie gerade. Was ist denn da passiert?

jp: Die eine habe ich selbst vermasselt, weil ich mich in einem Thema verhedderte, das nur mich und sonst niemanden im Saal interessierte. Und anstatt nun zu reagieren und das Thema zu wechseln, verbiss ich mich mehr und mehr in dem Ding. Das Publikum zeigte mir zwar klar und deutlich, dass es meinen Vortrag seltsam fand, aber ich hatte noch nicht die nötige Souveränität, den Mut und die Fähigkeit, mein Manuskript in Echtzeit umzubauen, das Publikum neu zu motivieren und erneut abzuholen. Ausserdem war ich beleidigt, weil Themen, die mich interessieren, die ganze Welt interessieren müssen – wie denn auch sonst, Mann? Ernsthaft: Wenn so etwas passiert, dann ist das absolut schrecklich! Ungefähr so wie die vergeigte Lehrprobe eines Examenskandidaten, der merkt, dass ihm nach 30 von 45 Unterrichtsminuten der Stoff ausgeht, weil er viel zu schnell war und die Schülerreaktionen und Mitarbeit unter Prüfungsstress falsch eingeschätzt hatte. Der Prüfungskommission ist dies leider auch nicht entgangen: Sie runzelt ungehalten die Stirn, beginnt ungeduldig mit den Füssen zu scharren, mit den Stühlen zu rücken, und der Kandidat denkt nur noch eins: O Herr, lass Abend werden! Wenn man bei Lesungen andererseits die Courage aufbringt, dem Publikum in solchen Notfällen frank und frei mitzuteilen: «HILFE! ich hab’ gerade den Faden verloren, helft Ihr mir, Kameraden, ihn wiederzufinden?», dann liebt einen das Publikum für diese Ehrlichkeit und geht einem bereitwillig dabei zur Hand, das Abenteuer Lesung gemeinsam erfolgreich hinzukriegen. Als Anfänger schafft man das allerdings NIE, sondern stirbt oben auf dem Podium mit seinem Text im Arm einen langsamen, qualvollen Tod. Andererseits ist das alles in der Regel weniger dramatisch, als ich es hier dargestellt habe. Das Publikum kommt ja nicht, um den Vortragenden zu foltern und nach Blut dürstend auf die Guillotine zu zerren, sondern um etwas Abwechslung zu haben und auch mal lachen zu dürfen. Allerdings besser mit als über den Lesenden.

Yasny: Sie haben uns jetzt freimütig von Ihrer schlechteste Lesung berichtet. Könnten Sie denn aus der Reihe Ihrer Auftritte auch Ihre beste benennen?

jp: Da müssen wir unterscheiden zwischen Lesungen aus meinen Büchern und öffentlichen Reden, von denen ich in der jüngsten Vergangenheit einige in Kaiseraugst halten durfte. Zwei völlig unterschiedliche Kategorien. Bei Reden zu unserem Nationalfeiertag oder bei Ausstellungsvernissagen geziemt sich schon eine erhöhte Seriosität. Dessen bin ich mir absolut bewusst. Die Anspannung vor dem Start ist entsprechend. Aber ohne Lampenfieber war noch kein Schauspieler gut. Mit der entsprechenden Erfahrung kriegt man das Adrenalin ziemlich gut auf den Level, wo es sein soll, damit man da vorn nicht einschläft, sondern das Publikum für sich und seinen Vortragsgegenstand einnehmen kann. Man geht zum Podium, spürt unzählige dolchartige Blicke im Rücken, begibt sich in eine stabile Körperlage, kontrolliert die Atmung, öffnet sein Manuskript: Panem et circenses: Mögen die Spiele beginnen!; wenn Du sie in spätestens zwei Minuten nicht auf Deiner Seite hast und/oder ihre fragenden Blicke nicht erträgst, solltest Du ganz still Dein Manuskript zuklappen, wie ein begossener Pudel möglichst ungesehen heimwärts schleichen und Dir überlegen, ob Du in der schützenden Anonymität des Publikums nicht besser aufgehoben wärest als in the line of fire.

Dazu fällt mir spontan mein lebenskluger Vater ein, der mal zu mir sagte: Merk Dir, im Krieg und im Kintopp sind die besten Plätze hinten – vorne flimmert’s so…!

Um auf Ihre Frage zurückzukommen, welche Lesung meine beste war: beste kann ich selbst nicht sagen, das muss das Publikum entscheiden. Die für mich ganz persönlich eindrucksvollste könnte ich benennen – im März 2001 auf Einladung des Oberbürgermeisters meiner Geburtsstadt Goslar am Harz, einer 1000jährigen Stadt, in der Kaiser residierten, im dortigen Rathaus. Ich las aus meinem Sebastian, der Erzählung vom Erwachsenwerden eines Menschen, der erstaunliche Ähnlichkeit mit jp hat. Diese Lesung brachte mich an emotionale Grenzen: Während ich las und von meinem schon damals längst verstorbenen Vater erzählte, war es mir, als stünde er auf einmal neben mir. Er legte seine Hand auf meine Schulter und sagte: «Schön, dass Du wieder zurück nach Hause gekommen bist, mein Junge!»

Es sind gefahrvolle Grenzbereiche, in die man vordringt, wenn man sich beim Schreiben und Erschaffen von Figuren völlig treiben lässt; bei dieser Tätigkeit bin ich einmal in rauer See in den Stürmen vor Kap Hoorn dem Fliegenden Holländer begegnet – der ich selbst war:

«Weit draussen, immer noch ausserhalb der menschenfressenden Brandung, aber nicht mehr unerreichbar von ihr, tanzte ein Boot auf der Dünung – eine altmodische Bark holländischer Bauart, Spielball der leidenschaftlichen Elemente, tanzte zu der uralten Melodie, die die See singt, seit sie geschaffen wurde.

Die Takelage hing in Fetzen von den geborstenen Masten, ihre Splitter ragten wie eine zum Schwur erhobene Hand zum Himmel. Das zerrissene Segel war von der wächsernen Farbe eines Leichengewandes; an einem Maststumpf hing, unter Fesseln gekrümmt, eine bleiche menschliche Gestalt, gespenstisch umzuckt vom Flackern des Elmsfeuers, das wie irrwitzig von einer Mastspitze zur anderen sprang.

Und es schien mir, als genoss dieses geschundene Wesen das verschlingende Chaos, dessen Auslöser und Opfer es gleichermassen war.»

*

Diese Art von Ausflügen in die Welt hinter den Spiegeln, die nur extrem selten gelingt, kann zu suchtähnlichen Befindlichkeiten führen. Und wenn die schwankenden Gestalten der künstlichen Paradiese, die sich ein besessen Schreibender schaffen kann, ein ungestümes Eigenleben entwickeln und als irisierende Moorlichter zum grausig verlockenden Tanz der Vampire bitten, dann begibt man sich auf schwankenden Grund. Man sollte sich gut überlegen, worauf man sich einlässt, wenn man Prometheus entfesselt – ungestraft hat noch kein Sterblicher die Götter herausgefordert; nicht EINER!

Yasny: Herr Peters, wir sind gespannt auf Ihre Lesung am 25. April.

jp: Ich auch.»

*

  • Kommen wir aber nun zu etwas völlig anderem.

 «Die Karawane bellt – doch die Pyramiden ziehen weiter!»

Vom Publikum fast unbemerkt, hat der bekannte Schweizer Autor Jan Peters kürzlich seinen Writer-in-residence-Loft im <Sacco and Vanzetti Building> im angesagtesten Teil von Downtown Manhattan bezogen. Wir von Yasny – the literary scouts that never sleep, waren die Ersten, denen «jp» Zutritt zu seiner hippen NYC-Schreibstube on the 36th floor gewährte. Von dieser coolen Location aus, die derzeit nach jps strikten Vorgaben neu konzipiert und konsequent zum «Hallraum und Epizentrum literarischer Gravitationswellen» – O-Ton jp – durchgestylt wird, erfolgt demnächst der Roll-out von «Influenza», jps neuem cutting-edge Blog.

Yasny: Würden Sie unseren Leserinnen und Lesern, die schon total excited sind, verraten, woran Sie derzeit mit der Ihnen eigenen Leidenschaft & Hingabe arbeiten, Meister?

jp: Ich fühl’ mich hier im Big Apple total abgespaced. Momentan bin ich zu 100 pro auf my kitchen work fokussiert. Dort bin ich gerade dabei, einen Satz neuer power outlets zu installieren; ausser short circuits krieg’ ich in meiner total abgefahrenen Yankee-Hütte aber noch nix geregelt.

Yasny: Stimmt es übrigens, Meister, dass Dieter Bohlen, dieser verkalkte Entertainment-Dinosaurier, Sie zum Casting für «Deutschland sucht den Superstar» eingeladen hat?

jp: Was das debile Kommerzgeflimmer von RTL und deren gelackten Vollpfosten Bohlen anbelangt, bei den Klippkaffern würd’ ich mich doch nie öffentlich zum TV-Affen machen! Wie fanden Sie übrigens die letzte Folge von «Dschungelbuch»?

Yasny: «Dschungelcamp» heisst es, Meister, nicht «Dschungelbuch».

jp: Schnauze! Wenn ich sage, dass etwas «-buch» heisst, dann heisst es «-buch» – Ende der Durchsage! Ist das angekommen, Sportsfreund?

Yasny: Während auf der Buchmesse Frankfurt eine nervige Merchandising-Aktion nach der anderen lief, erklärten Sie auf den «Kaiseraugster Literaturtagen 2017» Ihre vom Publikum begeistert aufgenommene Bereitschaft, ab sofort «robuste Textmandate» zu übernehmen.

jp: Diese von mir eingeführte Literatursparte, die ich als echten Challenge betrachte, steht unter der Headline «Es kesselt!». Paradigmatisch für «robuste Texte» sehe ich die New Yorker Schlüsselszene im «Brüllhenne» an. Vom Publikum fast unbemerkt, ist mir damit erstmals ein fetziges Amalgam zwischen Gangster-Epos & Seeräuber-Roman gelungen: Karibik-Piraten und Bronx-Mobster erklären unserer Zivilisation den totalen Krieg! Remember that?

Yasny: Nicht wirklich.

jp: Hätte mich auch total erstaunt, wenn Sie ausnahmsweise mal was gecheckt hätten, Kumpel. In der eben erwähnten key scene geht es darum, dass Samuel Brüllhenne, der zwar als Avatar des unbehausten digitalen Menschen aufzufassen ist, aber dennoch auch unverkennbar atavistische Züge trägt, von <Honest Meyer> Lansky, Dutch Schultz & <Machine Gun> Kelly von der Kosher Nostra durch die streets of New York, the city that never sleeps, gehetzt wird. It started with a phone call:

«Die Kartenverkäuferin greift (…) heimlich zum Telefon, das in einer dunklen Ecke ihres Kassenhäuschens steht, wählt mit zitternden Händen <Butterfly Eight> und flüstert in die Muschel: <Am I speaking to Special Agent Eliot Ness? Sir, John Silver is back here, and…> – der messerscharfe Enterhaken am Ende der stählernen Armprothese des Seeräubers Long John Silver bohrt sich in ihre Halsschlagader, ein Strom hellroten Blutes pulsiert aus ihrem Körper, sie stürzt mit einem lauten Aufschrei zu Boden, und in weniger als fünf Sekunden ist jegliches Leben aus ihr gewichen.

Long John Silver verschwindet in der Nacht, während aus dem Hörer des in einer sich schnell ausbreitenden Blutlache liegenden Telefonhörers ein alarmiertes <Madam, seien Sie vorsichtig! Dieser skrupellose Freibeuter is dangerous and always armed – FBI’s most wanted man!> ertönt.

Vor der Tür steht ein Mann im strömenden Regen. Der Kragen seines schmuddeligen Trenchcoats ist hochgeklappt, der Schatten seiner vom Regen triefenden Hutkrempe taucht das Gesicht in bedeutungsvolles Dunkel; es – das Gesicht – ist deshalb mehr zu erahnen denn zu erkennen.»

Does that ring a bell? Tut das eine Glocke läuten?

Yasny: Was? Hat’s schon zur grossen Pause geschellt?

jp (beiseite): The day will come, an dem ein unbeschreibliches Unglück über diese elende Kreatur hereinbrechen wird…

Yasny: Kommen wir nun schnell noch zu etwas anderem, nämlich dem wahren Grund unseres Besuchs. Haben Sie eigentlich any idea wie spät es ist? Ich muss los!

(Er springt auf und verlässt, vom Publikum fast unbemerkt, den Loft hoch über den Dächern von Downtown Manhattan.)

jp (heiser ihm hinterherbellend): Blöder Hund!

((Er streckt sich auf seinem geilen blue suede designer sofa aus, deckt sich mit der Abendausgabe der New York Times zu und flüstert (in akzentfreiem Hessisch): «Es sieht bees aus!!!»))

*

Wenn einer schreibt, dann macht er sich nicht nur Gedanken bei seinem Schreiben, sondern auch über sein Schreiben. Elegant nennt man das die Meta-Ebene. Mit den beiden Eingangstexten haben wir ja schon einen ersten Ausflug in dieses nebulöse Terrain hinter uns gebracht.

  • These Nr. 1: Jan Peters schreibt keine skurrilen Texte. Die skurrilen Texte schreiben ihn.
  • These Nr. 2: Jan Peters ist ein Wahnsinniger, den man einsperren sollte.
  • Gegenthese: Die Menschheit ist wahnsinnig. Jan Peters beschreibt das nur. Edgar Alan Poe tat das auch. Bevor er selbst dem Wahnsinn verfiel.
  • These Nr. 3: Kunst kommt vom «Können» – auch beim Schreiben (Transfer: Michelangelo Buonarroti)
  • These Nr. 4: Der Mensch soll sich entwickeln: «Jan Peters begann sein Leben in Deutschland. Da der Mensch sich weiterentwickeln soll, wie es immer heisst, zog er später in die Schweiz. Damit auch die Schweiz die Chance zur Weiterentwicklung erhält, schreibt er seit 12/2003 für den Nebelspalter.»
  • These Nr. 5: Der Mensch sollte wissen, woher er kommt. «Bodenhaftung» könnte man das auch nennen; ergo: Zukunft braucht Herkunft.

*

Eine Woche ohne Sinn und Verstand

Regelmässig zu Beginn des schönen Sommermonats Juli geriet die alte Stadt am Rande des uralten Gebirges sozusagen aus allen Fugen, und eine Art Notstand brach aus, denn es galt, ein kolossales Fest zu feiern, das für manche Einwohner sogar das Weihnachtsfest in den Schatten zu stellen vermochte. Das zweitgrösste Schützen- und Volksfest in ganz Niedersachsen fand auf dem Osterfeld statt, und etliche der üblicherweise in sich ruhenden Stadtbewohner, die den Rest des Jahres übermässigen Gefühls- und Temperamentsausbrüchen eher abwartend gegenüberstanden, «hauten mal so richtig auf die Pauke». Auch Sebastians Vater gehörte zu dieser Sorte. Für ihn war das Schützenfest überhaupt nicht aus dem Jahresablauf wegzudenken, bzw. hätte er seine Abwesenheit für einen unverzeihlichen Bruch mit den besten Traditionen der Stadt gehalten. Hätte man Pfingsten oder Ostern ersatzlos gestrichen – das hätte er leicht verschmerzen können; Pfingsten noch am problemlosesten, denn zwischen dem Heiligen Geist und Otto wollte sich einfach keine innige Beziehung aufbauen – zu ,Himbeergeist’ schon eher –, was unter Umständen daran gelegen haben mag, dass sich mit diesem christlichen Fest eigentlich keine dezidierten Vorstellungen assoziieren lassen, die mit einem nur zu dieser Zeit gereichten Essen zu verbinden wären  – und ,Pfingstochse’ ist ja eigentlich auch keine rechte Menübezeichnung. Es ist an dieser Stelle ausdrücklich festzuhalten, dass für Sebastians Vater die Betonung auf Volks-  und nicht auf Schützenfest lag. Das Hantieren mit Schiessprügeln übte nicht die allergeringste Faszination auf ihn aus, es sein denn, es ging darum, an einer Schiessbude solange Tonröhrchen abzuknallen, bis letzten Endes von dem unwilligen Budenbesitzer ein Plüschbär für Sebastian als Prämie herausgerückt werden musste. Dass auf Scharfschützenart erworbene Zotteltiere summa summarum viel teurer waren als in regulären Geschäften erworbene, wurde grosszügig übersehen, denn, wie gesagt, Anfang Juli galten in der alten Stadt andere Regeln als sonst, und protestantische Nüchternheit war nicht gefragt.

Dafür hatte der Rest des Jahres schliesslich noch einundfünfzig andere Wochen, in denen man sich ausgiebig darüber ereifern konnte, dass auf dem Schützenfest sowieso alles Lug und Trug sei, in Besonderheit die Gewehre, mit deren abgefeilter Kimme und Korn selbst ein Scheunentor aus fünf Metern nicht mehr zu treffen sei, geschweige denn die winzig kleinen, weissen Hülsen, in denen allerlei Tinnef steckte, den ein normaler Mensch eigentlich nicht geschenkt nähme. Stattdessen während der ersten Juliwoche in der alten Stadt schwer dafür bezahlte. So war es für Otto selbstverständlich, dass auch Sebastian möglichst frühzeitig daran gewöhnt werden musste, das Schützenfest würdig zu begehen.

Kulturelles ist für junge Erdenmenschen ein zu abstrakter Begriff, als dass sie mit ihm etwas anfangen könnten. Erhöhung des Taschengeldes dagegen, da sehr selten, ist überaus geeignet, das Aussergewöhnliche eines Ereignisses herauszustreichen und Kindern bewusst zu machen. Zum Schützenfest gab es immer eine grosszügig bemessene Sonderzulage zum Taschengeld – eine Art 13. Monatsgehalt für nichtberufstätige Kinder und Jugendliche. Zu seines Vaters grösster Freude entwickelte Sebastian sehr früh eine langanhaltende Vorliebe für Volksfeste jeder Art – wobei das Schützenfest seiner Heimatstadt ganz unumstritten auf Platz 1 rangierte.

Vom väterlichen Haus zum Ort der Festivitäten waren es keine fünf Gehminuten, und Sebastian verfolgte aufmerksam alle Phasen, die vor, während und nach dem grossen Ereignis durchlaufen wurden.

Sobald die ersten bunt bemalten Wagen, gezogen von bullernden Lanz-Bulldog-Traktoren, vom Güterbahnhof zur Festwiese transportiert wurden, unterlagen sie Sebastians genauer Beobachtung und Kontrolle.

,Ob wohl wieder alle kommen würden, die im letzten Jahr dagewesen waren?’ Sebastian konnte nur mit grösster Mühe dazu gebracht werden, wenigstens zu den Mahlzeiten im Haus zu sein, die übrige Zeit verbrachte er damit, verwegen aussehenden, über und über tätowierten Männern dabei zuzusehen, wie sie mit der Gelenkigkeit von Orang-Utans in luftigen Höhen auf wackligen Gerüsten herumturnten und Strebe für Strebe, Schiene für Schiene, Schraube für Schraube das zusammenbauten, was einmal eine Achterbahn werden sollte, was kaum zu glauben war, wenn man das heillose Chaos sah, in dem sich diese magenhebende, Gleichgewichtsorgane ausser Rand und Band bringende Attraktion in ihrem Anfangsstadium befand.

Dennoch brachten sie es jedes Jahr aufs Neue fertig, aus dem Trümmerhaufen eine fahrtüchtige Bahn zu konstruieren, an der selbst die gestrengen Herren des TÜV nichts auszusetzen hatten. Wenn dann endlich, an einem Sonnabendnachmittag, der Schützenumzug durch die Stadt beendet war, und die offizielle Eröffnung des Riesenrummels gebührend feierlich vollzogen war, hielt Sebastians nichts mehr im Haus.

Ein Kunterbunt der aufregendsten Düfte des Jahres erfüllte die Luft: Da verpuffte zischend das Fett der Thüringer Bratwürste auf weiss umhüllter schwarzer Holzkohle mit glutroten Kernen, in wabernder Hitze krümmten sich die kümmelgewürzten Hackfleischgebilde, als versuchten sie, dem Feuertod zu entrinnen, immerfort gedreht und wieder gedreht von schweissüberströmten, nach Luft ringenden Metzgergesellen, die vergeblich dem beissenden Qualm auszuweichen versuchten, da rührten klappernd die Holzlöffel in Messingkesseln, umhüllten die braunen Mandeln mit rotem Zuckerbrand, da platzten in beschlagenen Glaszylindern dumpf die Maiskörner zu weissen, krakigen Metamorphosen, rauchduftende Schillerlocken in ihren Brötchen stritten mit  lorbeer- und zwiebelschwimmenden Bismarckheringen um die Vorherrschaft in den Nasen der Vorübergehenden, der Türkische Honig widerstrebte leise knirschend dem Messer, Teigklumpen polterten in brodelnden Schmalzseen, in Wallung gebracht von blau zischenden Feuerzungen – und über allem ein Getöse, wie es schlimmer nicht vorstellbar. Sebastians Tor zur Glückseligkeit stand weit offen. Von einer Bude zur nächsten lief er, konnte gar nicht genug bekommen von diesem elysischen Wirrwarr, und alles war nur für ihn so wunderbar aufgebaut worden. Wer das nicht glaubte, der hätte sich nur die alten, verständigen Holzpferde auf dem Karussell anzuschauen brauchen, wie sie im Vorbeigleiten dem Jungen freundlich zuzunicken niemals vergassen, und das Orchestrion, das den kreisenden Tieren, knallroten Feuerwehrautos und üppig vergoldeten venezianischen Gondeln unerbittlich sein zackiges Stakkato vorgab, das orgelte, posaunte, pfiff, rasselte und kesselpaukte nur für ihn: Bemerkte denn niemand, dass sein mechanischer Maestro, wenn er nicht emsig dirigierte, dem Sebastian einen Kratzfuss nach dem anderen entbot? Sebastian sah das wohl, denn im Grunde war es sein Schützenfest, nur für ihn fand es statt, und niemand in der alten Stadt genoss es mehr als er!

«Die Truppe auf die Bühne – Herr Kapellmeister: bitte Musik. Damen und Herren, treten Sie näher, exklusiv für Sie zeigen wir…» Trommelwirbel, «Godwin Rex, einen der stärksten Männer dieser Zeit!» Sebastian traute sich nicht recht, ganz nahe an die Bühne zu gehen, denn immerhin hatte sich dieser ,Godwin Rex’ _– der vermutlich in Wirklichkeit ,Gottfried König’ geheissen hat – «…in Cuxhaven von einem Mercedes 280 überfahren, überrollen lassen.» Es entzog sich damals noch des Jungen Wahrnehmungsvermögen, dass die Einmaligkeit des Herrn ,Rex’ auch dann keinen Schaden erlitten hätte, wenn er diese Ungeheuerlichkeit in Castrop-Rauxel oder Oberammergau vollbracht hätte, aber es hatte eben in Cuxhaven stattgefunden, das Überfahren, Überrollen.

«Suleika zeigt Ihnen freizügige Bauchtänze aus ihrer arabischen Heimat. Damen und Herren», der in Frack und Zylinder gekleidete Impresario winkt augenrollend das Publikum näher heran, «bitten wir Sie um Ihr Verständnis, meine Herrschaften, dass nur Erwachsene zugelassen sind. Damen und Herren, ausschliesslich Erwachsene, wenn ich bitten darf: Suleika wird bis an die Grenzen des von den Behörden Erlaubten gehen.» Einmal stand ,Suleika’ ganz nah bei Sebastian, das heisst, eigentlich ganz nah, ganz hoch über ihm, auf der Bühne, in ihren schwarzen Netzstrümpfen und ihrem roten Trikot. Ein verruchtes Weib, durch und durch lasterhaft – ausserdem hatte sie eine Laufmasche, die unter Sebastians ängstlichem Blick unter das Trikot lief, in Bereiche, die höchste Gefahr verhiessen. Ob das Hühnerauge, das sie auf der kleinen Zehe hatte, als ein zusätzliches Kennzeichen ihrer Verworfenheit zu werten gewesen sein könnte, wagte Sebastian damals noch nicht zu entscheiden. Jedenfalls flösste sie ihm gehörigen Respekt ein, mit dieser in verbotenes Gebiet vorstossenden Laufmasche und der schwarzen Tüllgardine auf ihrem weitausladenden Balkon, dessen freitragende Konstruktion Sebastian von unten bestaunte. In der ersten Zeit, an die sich Sebastian noch erinnern konnte, waren auch die Catcher da, und der Entsetzlichste von ihnen allen war Santo Nagy aus Budapest, der vor jedem Kampf einen Eimer Blut trank, um sich in Stimmung zu bringen. War das ein Grobian, dieser Santo Nagy, Budapest, genannt der ungarische Totschläger. Schon vier Männer habe er im Ring massakriert – wurde gemunkelt. Vier athletische Männer, Kerle wie Bäume, mit blossen Händen erdrosselt, das Genick gebrochen oder einfach so den Schädel eingeschlagen!

Sebastian stellte sich vor, wie Gehirnmasse und zersplitterte Menschenknochen den Ringboden verunzierten! Nur mit einer Badehose bekleidet, so stampfte der Knochenbrecher auf der Bühne hin und her, dass die ganze Bude ins Wanken geriet, stiess grunzende Urlaute aus, warf finstere Blicke ins Publikum, dabei seine Augenbrauen mindestens fünf Zentimeter auf und ab bewegend. Er galt als unbesiegbar – bis Rossmetzger Kurs kam, der mit der übermenschlichen Kraft eines Zentauren den ungarischen Bösewicht auf die Knie zwang. Die alte Stadt hatte einen neuen Helden, und der Umsatz des ortsansässigen Pferdeschlachters schnellte kometenhaft in die Höhe, obwohl die sich ihrer germanischen Ursprünge dumpf bewussten Bevölkerung sonst lieber zu Rinderrouladen und Schweinebraten griff, wenn es darum ging, Sonntägliches aufzutischen.

Dann war alles viel zu schnell vorbei – nur noch die in Tausende von Splittern geborstenen Tonröhrchen im Gras, wo die Schiessbuden gestanden hatten, erinnerten daran, dass die Niedersachsen der alten Stadt sich selbst vergessen und eine Woche ,ohne Sinn und Verstand’ gelebt hatten.

*

  • Kommen wir aber nun zu etwas völlig anderem.

 

Auf dem Korridor ertönen mitreissende Fanfarenstösse, die Leibstandarte SS Adolf Hitler knallt die Hacken zusammen, dass der Watzmann wackelt: In seinem Sonder-Kfz. 11, Leichter Zugkraftwagen, 3 Tonnen, Borgward, Halbkette, kommt Reichsmarschall Hermann «Meatloaf» Goering ins Führersperrgebiet hochgedüst. Weitere, noch gewaltigere Fanfaren als zuvor, gegen welche die Posaunen von Jericho die reinsten Jahrmarkts-Tröten sind, treten hoffärtig lächelnd aus den Wänden und blasen triumphierend:

Das Panzerlied

«Ob’s stürmt oder schneit,

ob die Sonne uns lacht,

der Tag glühend heiss

oder eiskalt die Nacht,

verstaubt sind die Gesi-hi-chter,
doch froh ist unser Sinn, ja unser Sinn:

Es braust unser Panzer

im Sturmwind dahin!»

*

Görings Panzerwagen biegt mit sportlich ausbrechendem Halbkettenheck in die Auffahrt zum Berghof ein. Der Reichsmarschall, stilvoll gekleidet in Berchtesgadener Landestracht, hüpft voller vaterländischer Begeisterung im Kommandostand auf und nieder. Er feuert seinen Kraftfahrer zu forcierter Gangart an und schwenkt dazu brüllend wie ein Stier seinen Marschallstab: «OBERGEFREITER MÜLLER: Attacke!! Attacke!!», dabei wippt der Gamsbart an seinem Filzhut im Takt.

Da versagen urplötzlich die Bremsen des Goering-Kraftkampfwagens den Dienst: Wild am Lenkrad rudernd und gleichzeitig das Bremspedal erbarmungslos malträtierend, versucht Obergefreiter Müller, Goerings bewährter Kraftfahrer, das Sonder-Kfz. 11, Leichter Zugkraftwagen, drei Tonnen, Borgward, Halbkette, zum Stehen zu bringen bzw. in eine andere Richtung zu werfen – alles vergeblich!

Sozusagen mit «des Basses Grundgewalt» schlägt das Sonder-Kfz. 11, Leichter Zugkraftwagen, drei Tonnen, Borgward, Halbkette, in die Wand des Berghofes ein, der darob in seinen Grundfesten erschüttert wird.

DER FÜHRER (kategorisch, unerschütterlich): «Die teutsche Bremse fällt niemals aus, merken Sie sich das gefälligst HERR Goering! Onter gar keinen Omständen fällt die teutsche Bremse aus!!»

Goerings Kraftfahrer (beiseite zu seinem Richtschützen): «Wir hätten wohl doch nicht die ausgeglühten Bremsen von diesem französischen Scheisspanzer, den wir bei Dünkirchen mit der Panzerfaust abgeknipst haben, in unseren deutschen Qualitätspanzerwagen einbauen sollen. Irgendwie hat der Franzosenplunder von Anfang an nicht richtig in unser Grossdeutschen Gefechtsfahrzeug, leicht gepanzert, Halbkette, gepasst. Heil Hitler, Herr Richtschütze!»

Goering (sich den Mörtel der Berghofgrundmauer von der Lederhose klopfend): «Heil Hitler und Sieg heil, meine Herren!»

DER FÜHRER (herrisch): «Meine Herren Gesangverein, Goering!! – haben Sie eigentlich noch alle Latten am Zaun, Reichsmarschall?»

Goering (scheinheilig): «Jawoll, Lattenzaun, Herr Führer! Sieg heil!»

Goering (sich mit dem unwiderstehlichen Lächeln eines Skorpions seinem Fahrer zuwendend, sehr laut werdend): «Meine Fresse, Müller! Hände hoch, gefechtsmässig absitzen: marsch, marsch!!!!»

Der Obergefreite Müller schwenkt ein weisses Taschentuch, hebt die Arme, springt aus dem Fahrersitz seines leichten Zugwagens, drei Tonnen, Halbkette, und wirft sich vor Goering in den Staub. Er fleht um Gnade.

Goering (arglistig): «Wohl Sehnsucht nach ’er Ostfront, was Müllerchen?»

Der Wehrmachtsobergefreite Müller bittet um Schonung seines, wie ihm umgehend klar wird, eigentlich verwirkten Lebens, im Namen seiner 13 Kinder, seines ihm angetrauten Weibes sowie seiner drei Nebenfrauen – alles vergeblich, der unerbittliche Reichsmarschall lässt sich nicht erweichen: «Müller, jetzt ziehen wir beide mal die Arschkarte!»

Perfide grinsend zieht er seine fertiggeladene Walther PPK®, Kal. 7,65 mm Browning, aus der Gesässtasche seiner Krachledernen, lädt durch, entsichert und verpasst dem Obergefreiten Müller einen finalen Genickschuss.

Kraftfahrer Müller fällt um und ist mausetot.

  • Darf Satire so etwas?

*

  • Kommen wir aber nun zu etwas völlig anderem.

 

Samuel Brüllhenne oder: «Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn ist durchaus fliessend!»

Der letzte Vorhang

Samuel Brüllhenne, der Mann der 1’000 Gesichter, begann, sich wehmütig an seine Ursprünge zu erinnern, und machte sich zu einer Fahrt ins Hochgebirge auf. Da er von dunklen Vorahnungen heimgesucht worden war, beschloss er, über alles, was ihm auf dieser Reise begegnen und zustossen würde, genauestens Buch zu führen, auf dass die Nachwelt von seinem «Leben und Wirken» Kunde erhalte und alles sorgsam aufbewahren möge. Dies sind die ersten Zeilen seiner Chronik:

«Den ersten Teil der Reise machte ich zu Pferde. Später mietete ich mir ein Maultier, das sicherer auf den Füssen war und auch weniger unter den schlechten Wegverhältnissen litt. Das Wetter war wunderschön. Es war Ende Oktober, beinahe zwei Monate, seit Justine von uns gegangen, seit mein furchtbarer Zustand seinen Anfang genommen. Je tiefer ich in das Tal der Arve vordrang, desto leichter wurde mir ums Herz. Die mächtigen Berge und steilen Abstürze zu beiden Seiten meines Pfades, das Rauschen des Flusses, der sich zwischen den Felsen seinen Weg suchte, und das Dröhnen der Wasserfälle, das alles sprach zu mir wie ein Flüstern der Allmacht. Und ich hörte auf zu fürchten, mich vor Mächten zu beugen, die schwächer waren als sie, die die Elemente schuf und ihnen gebietet. Je höher ich kam, desto wilder und herrlicher wurde das Tal. Burgruinen hingen kühn an den bewaldeten Bergwänden; die tosende Arve und die Hütten, die da und dort aus den Bäumen hervorlugten, boten ein unvergleichlich schönes Bild. Und darüber ragten die weissen, schimmernden Kuppeln und Pyramiden der Alpen in überirdischer Pracht, wie Wohnungen von Wesen, die…»

In diesem Moment wurde der Wanderer Brüllhenne von einem Reiter mit einer goldenen Krone auf dem Kopf und einem Bogen über der Schulter auf einem schnaubenden Schimmel überholt. Nur mit Mühe gelang es dem Reisigen, sein schäumendes Ross zum Stehen zu bringen. Dann schleuderte er Samuel atemlos entgegen: «Seid Ihr der Deichgraf Hauke Haien, Euer Gnaden?» Brüllhenne gefror das Blut in den Adern, und unter Aufbietung seiner letzten Kräfte entrang sich ihm ein geflüstertes: «Wie habt Ihr mich gefunden?» – «Euch finden? Nichts leichter als das: Ich brauchte nur der Spur von Blut zu folgen, die Ihr durch die Zeit und über die Welt gelegt habt. Bereitet Euch auf Euer Ende vor!» Und der Reiter stiess ein solch entsetzliches Lachen aus, wie es Samuel Brüllhenne das letzte Mal vor Jahrhunderten gehört hatte, als die «Grosse Mannstränke» die Deiche fortgenommen und dem Schnitter Tod eine fürstliche Ernte präsentiert hatte: Und der, der auf der Wolke sass, schleuderte seine Sichel über die Erde – und die Erde wurde abgeerntet. Mit einem grimmigen «Grüsst mir herzlich Freund Hein, Euer Gnaden!», warf der schreckliche Reiter sein Pferd herum, zog in höhnischer Ehrerbietung seinen breitkrempigen Hut mit dem roten Federbusch und sprengte davon.

Der dichte Nebel, der unaufhaltsam vom Gletscher ins Tal zog, verschlang ihn nach wenigen Sekunden, nur der helle Hufschlag seines Pferdes sprang noch einige Zeit wie ein übermütiger Kobold von einer Felswand zur anderen. Und es ertönte ein schauriger Gesang, von den Berghängen vielfach gebrochen, verzerrt, wiederholt und zurückgeworfen, und fast schien es dem Samuel Brüllhenne, als sänge man ihm ein Lied zu seiner eigenen Grablegung:

Long John Silver’s Song

«Fifteen men on the dead man’s chest –
…Yo-ho-ho, and a bottle of rum!
Drink and the devil had done for the rest –
…Yo-ho-ho, and a bottle of rum!»

*

Damit endet die notdürftige Rekonstruktion der noch entzifferbaren Tagebuchaufzeichnungen Samuel Brüllhennes über seine letzten Wege in den Alpen. Der Rest, der später bei ihm in seinem gespenstischen Grab aufgefunden wurde, war völlig unleserlich, seine Schrift war immer schwächer geworden – als sei Samuel Brüllhenne in ein tiefes Tal geraten, aus dem es kein Entrinnen mehr für ihn gab. Wir vermuten, dass er im Anschluss an die Begegnung mit dem Schimmelreiter seinen ursprünglichen Plan verwarf, Dr. Viktor Frankensteins Geschöpf auf dem Rhonegletscher zu einem Kampf auf Leben und Tod herauszufordern – zu Samuel Brüllhennes ganz persönlichem Armageddon.Er gab dieses Vorhaben womöglich deshalb auf, weil er fühlte, dass seine ehemals übermenschlichen Kräfte nach und nach schwanden; und anstatt das letzte Gefecht mit Frankensteins Kreatur des Grauens zu suchen, machte er sich in Richtung Ostalpen auf. Jedenfalls deutet die Mehrzahl der Auskünfte von Sennen, Freischützen und Wildheuern, die wir im Laufe unserer langjährigen Nachforschungen im Hochgebirge ausfindig machten und intensiv befragten, in diese Richtung.

((Einschub: Völlig unklar bleibt, welches Ziel er ursprünglich in den Ostalpen angestrebt haben könnte. Wollte er vielleicht noch weiter? In die Puszta? Oder in die unendlichen Weiten der asiatischen Steppen, die er so sehr liebte? In diesem Zusammenhang erinnern wir uns daran, dass Samuel Brüllhenne am 3. November 1973 – viele, viele Jahre nach seinem Tod – an der Theke seines Lieblingswirtshauses «Zum Weissen Schwan» in Goslar/Harz bei einem Pressetermin geäussert hatte: «Ich bin ein Kosak. Und Kosaken müssen reiten!» Liegt hier der Schlüssel zu den zahlreichen Rätseln, die uns sein Leben, sein Wirken und schliesslich sein dramatisches Sterben aufgegeben haben? Wir wissen es nicht.))

Wir haben versucht, diese zahlreichen nur mündlich überlieferten und sich zum Teil diametral widersprechenden Mitteilungen in einen chronologisch plausiblen Zusammenhang zu bringen, um unsere Geschichte nicht im Mahlstrom der Unendlichkeit enden lassen zu müssen.

Unser tragischer Held war viele Tage gelaufen, endlos graue und lautlose, melancholische Herbsttage lang – durch eine eigentümlich öde und traurige Gegend, auf die erdrückend schwer die Wolken herabhingen.

Und endlich, als die Schatten des Abends niedersanken, sah er den Grossglockner vor sich, den Herrscher der Ostalpen, der majestätisch über dem Hofstaat der ihn umrahmenden Berge thronte. Samuel Brüllhenne wurde von einer grossen Unrast ergriffen, änderte unvermittelt seine Richtung und wanderte die ganze Nacht hindurch wieder zurück in Richtung Westen, bis er schliesslich kurz vor Morgengrauen das 3208 m hohe Tisenjoch in den Ötztaler Alpen oberhalb des Niederjochferners erreichte.

Auf gefährlich schmalen Säumerpfaden, stets vom Absturz in bodenlose Abgründe bedroht, begleitet von tosenden Lawinen und dröhnenden Steinschlägen, so kämpfte er sich mühevoll vorwärts und erwog gerade, eine längere Rast einzulegen, da eine grosse Schwäche ihn zu überwältigen begann, als ihm wie der Blitz aus heiterem Himmel ein Hüne von einem Mann jäh den Weg verstellte. «Wer seid Ihr, Fremder – was ist Euer Begehren?», schrie Samuel Brüllhenne, dem seit Tagen nur schweigsame Gämsen, schwatzhafte Dohlen und pfeifende Murmeltiere, aber keinerlei menschliche Wesen mehr begegnet waren, bei diesem Anblick in plötzlicher Todesangst auf. «Nehmt dies mit ins Reich der Finsternis, erbärmliche Ausgeburt der Nacht – mich täuscht Ihr nicht, Graf Dracula!», dröhnte mit Stentorstimme Gabriel van Helsing, der gefürchtetste Vampirjäger aller Zeiten, riss die Armbrust von seiner Schulter, spannte die Sehne, legte einen Pfeil ein und – Gabriel van Helsing verfehlte niemals sein Ziel!

Das Letzte, was Samuel Brüllhenne in der diesseitigen Welt verspürte, war ein brennender Schmerz, der alles auslöschte, was noch an Leben in ihm gewesen war, und er stürzte in nicht enden wollende Tiefen, bis sein zerschmetterter Körper schliesslich im knisternden Eis des Niederjochferners seine vorläufig letzte Ruhe fand.

Am 19. September 1991 entdeckten zwei Bergwanderer eine mumifizierte Leiche am Niederjochferner, der sich nach langen Jahrhunderten des Vordringens wieder ins Hochgebirge zurückzuziehen begonnen hatte. Nach intensiven Untersuchungen durch ein Heer von Spezialisten gab man dem Mann aus dem Eis schliesslich den jämmerlichen Namen «Ötzi»; ohne zu ahnen, dass es sich hierbei um Samuel Brüllhenne handelte – den Mann der hundert Gesichter, der aus unserer Zeit verstossen wurde und dazu verdammt ist, ohne Rast und ohne Ruh durch die Welt zu wandern bis an ihr verborgenes Ende.

  • «Der Herr erbarme sich deiner, Bruder!»

*

  • Kommen wir aber nun zu etwas völlig anderem.

«Was ist denn Heimat für dich?» fragte der Graue, der plötzlich sehr aufmerksam geworden war, als Sebastian so zu schwärmen und zu träumen begann. Eine höchst schwierige Frage, kaum zu beantworten. «Wo ich keine Angst zu haben brauche und auch kein Heimweh kriege», stotterte der Kleine, der angesichts der ernsten Miene, die der Ältere aufgesetzt hatte, ganz und gar nicht davon überzeugt war, dass eine so simple Antwort überhaupt akzeptabel sein könnte. Eine ans Dialektische grenzende Antwort: In der Heimat hat er kein Heimweh; was noch lange nichts darüber sagt, wo er Heimat fühlt; er scheint nur zu spüren, wo er sie nicht hat – und wie steht’s denn mit mir in dieser Beziehung? Wo ist denn überhaupt meine Heimat? In der alten Stadt, die mir fremd geworden ist? Obwohl ich einmal wusste, wann die Menschen hier fröhlich sind, wann sie lachen, was sie traurig macht, und wann sie weinen. Wie sie ihre Feste feiern, wie sie ihre Toten beerdigen und ihrer gedenken, wann man laut sprechen kann, und wann man besser still ist. All das fühle ich nicht mehr, obwohl ich es noch weiss. In dem wunderschönen Waldsee am alten Bergwerk, habe ich das letzte Mal vor über dreissig Jahren gebadet, als Connie Francis «Die Liebe ist ein seltsames Spiel» von einer 45er-Platte sang, und ich dabei fühlte, dass noch viel aufregend Unbekanntes auf mich wartete, als die Mädchen in ihren damals sehr gewagten Bikinis ihre Wirkung ausprobierten. Und was wartet jetzt noch auf mich? Jetzt, da mir die Menschen immer durchsichtiger werden? Wo sind die verlockenden Blüten der Illusion geblieben? Ich laufe stundenlang durch die alten Strassen und kenne niemanden mehr; die Häuser und die steinalten wohlgenährten Türme, sie wissen nicht mehr, wer ich bin, und sprechen nicht mehr zu mir; ich treffe kein zerbrechlich wirkendes blondes Mädchen, das mir verschmitzt schüchtern zulächeln würde; ich fühle keine rastlose Sehnsucht wie einst – und wie der Jasmin in diesem Jahr geduftet hat, kann ich nicht sagen, rätselte der Graue, dessen Schweigen und Nachdenklichkeit den Kleinen zutiefst beunruhigten. – «Hab’ ich was Falsches gesagt?» wandte er sich zaghaft an den Alten und zippelte an dessen Hosenbein. «Nein, nein, das ist schon alles in Ordnung, mein Lieber», lächelte der Graue, strich dem Kind zärtlich über den Kopf, sah ihm in die Augen und sagte: «Es ist schade, dass jeder von uns etwas hat, das der andere sehr gut gebrauchen könnte, aber unmöglich bekommen kann. In der Tat überaus schade.» Er scheint langsam etwas wunderlich zu werden, dachte Klein-Sebastian und lief schnell in den Garten, um den Schmetterlingen zuzusehen, wie sie um die wehrhaften Brennnesseln und den wohlwollend im Wind nickenden Sauerampfer herumschwirrten. Lange Zeit verstand er viel mehr von Tieren und Pflanzen als von den Menschen. So wusste er zum Beispiel, dass man, nach Art der Amazonas-Indianer, aus den Stengeln der dicksten Wiesenkerbel perfekte Blasrohre machen konnte, mit deren Hilfe reife Fliederbeeren, in der alten Stadt ‚Keileken‘ genannt, von hinten auf die weissen Blusen von Passanten gepustet wurden. Wenn die Beeren richtig reif und weich waren, merkten die Opfer den Einschlag gar nicht: «platsch». Später, auch nach dem Waschen der Wäsche, desto mehr, denn ‚Keileken‘ enthalten einen Farbstoff, den Sebastians Vater als ‚Indanthren®‘ zu bezeichnen pflegte: absolut licht-, luft- und waschecht. Nur ein Mittel gab es gegen diese Flecke: rausschneiden! In ihrem Garten schnitzten und bohrten sie sich Pfeifen aus Kastanien, mit Strohhalmen als Mundstück, rauchten getrocknetes, zerriebenes Laub darin, was einen solchen Knaster ergibt, dass in die ,Prawda’ gewickelter Machorka dagegen geradezu ,extramild’ und gesundheitsfördernd erscheint – was demjenigen, der schon einmal Russlands Urgewalten inhalierend aufgenommen hat, unmittelbar ausmalen dürfte, was wirklich ,starker Tobak’ ist. Manchmal brannten die Strohhalme oder der ganze Pfeifenkopf schneller ab, als der ,Tabak’ Feuer gefangen hatte, und der Rauch, den sie heftig ansaugten, war so heiss, dass er Brandblasen auf der Zunge hervorrief. Regelmässig wurde es ihnen danach sterbenselend, bleich wie frisch gekalkte Wände sahen sie aus, Sebastian und sein Bruder, aber sie machten es immer wieder – und sie liebten es, Kinder zu sein in der alten Stadt, welche die ihre war und die vor ihnen nichts verborgen hielt.

Und manchmal, weit weg von meiner Heimatstadt, meiner vertrauten alten Stadt am Rande eines uralten Gebirges, in warmen Sommernächten, da komme ich in Gedanken dorthin zurück, von wo ich einst in die Welt aufbrach; am liebsten mit einem der schönsten Gedichte in deutscher Sprache von einem gewissen Rainer Maria Rilke:

Ich möchte einer werden so wie die,

die durch die Nacht mit wilden Pferden fahren,

mit Fackeln, die gleich aufgegangnen Haaren

in ihres Jagens großem Winde wehn.

Vorn möcht ich stehen wie in einem Kahne,

groß und wie eine Fahne aufgerollt.

Dunkel, aber mit einem Helm von Gold,

der unruhig glänzt. Und hinter mir gereiht

zehn Männer aus derselben Dunkelheit

mit Helmen, die, wie meiner, unstät sind,

bald klar wie Glas, bald dunkel, alt und blind.

Und einer steht bei mir und bläst uns Raum

mit der Trompete, welche blitzt und schreit,

und bläst uns eine schwarze Einsamkeit,

durch die wir rasen wie ein rascher Traum:

Die Häuser fallen hinter uns ins Knie,

die Gassen biegen sich uns schief entgegen,

die Plätze weichen aus: wir fassen sie,

und unsre Rosse rauschen wie ein Regen.

  • Ich danke Ihnen für Ihre Geduld

25. April 2018
Violahof Kaiseraugst

Jan Peters

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