Das Ordnen ist des Schweizers Lust

Das Ordnen ist des Schweizers Lust

«Beim Eintritt wäre K. fast hingefallen, denn hinter der Tür war noch eine Stufe. ‹Auf das Publikum nimmt man nicht viel Rücksicht›, sagte er. ‹Man nimmt überhaupt keine Rücksicht›, sagte der Gerichtsdiener, ‹sehen Sie nur hier das Wartezimmer›. Es war ein langer Gang, von dem aus roh gezimmerte Türen zu den einzelnen Abteilungen des Dachbodens führten. Obwohl kein unmittelbarer Lichtzutritt bestand, war es doch nicht vollständig dunkel, denn manche Abteilungen hatten gegen den Gang zu statt einheitlicher Bretterwände blosse, allerdings bis zur Decke reichende Holzgitter, durch die einiges Licht drang und durch die man auch einzelne Beamte sehen konnte, wie sie an Tischen schrieben oder geradezu am Gitter standen und durch die Lücken die Leute auf dem Gang beobachteten.»

Auch nach fast 100 Jahren hat Kafkas «Prozess» das Potenzial, angesichts einer sich bürokratisch verschanzenden Staatsmacht, die das Individuum massiv bedroht, bei der Leserschaft tiefe Existenzängste auszulösen. In der bedrohlichen Atmosphäre der Kanzleien ist alles darauf angelegt, der wartenden Kundschaft, die niemals zu den entscheidenden Stellen vorgelassen wird, deutlich zu zeigen, wo «oben und unten» ist und dass der Bürger für die Bürokratie da ist – und nicht etwa umgekehrt, wie naive Gemüter leichtfertig vermuten.

Erdrückende Beweise
Kafka erwähnt es nicht ausdrücklich, aber man kann sich angesichts seiner Beschreibung der Welt der Kanzleien leicht vorstellen, dass hinter den Sachbearbeitern etliche Laufmeter von Aktenordnern die Angeklagten bedrohlich daran erinnern, dass in den Mühlen der Justiz kein einziges Wort, keine Anklage, keine Einsprache, keine Zeugenaussage, eben einfach rein gar nichts verloren geht: Alles wird gewissenhaft und lückenlos dokumentiert, jedes Wort kann gegen die Beschuldigten verwendet werden. Da mögen die Anwälte der Vorgeladenen, falls man ihnen überhaupt einen Rechtsbeistand zugesteht, argumentieren, wie sie wollen – gegen den «von Amts wegen» aufgetürmten Aktenberg mit den in ihm gesammelten Verfehlungen der Verdächtigten wirkt die schroffe Eigernordwand lieblich, und wer in die Labyrinthe der «Aktenlage» geraten ist, der ist verloren.

Keine Chance dem Chaos
17 Jahre vor Erscheinen von Kafkas berühmtestem Werk geschah in unserem Land etwas, dessen Bedeutung für die moderne Schweiz gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann: 1908 wurde der erste Schweizer Aktenordner produziert und auf den Markt gebracht – veritabler Vorläufer des Bundesordners, ohne den die Eidgenossenschaft schlicht nicht vorstellbar wäre.

Mit diesem Rolls-Royce unter den Ordnern wurde schnell klar, dass unser Heimatland, in dem Unordnung zu keiner Zeit und in keinem Lebensbereich geduldet wird, nicht nur über die weltbeste Armee, sondern auch über das denkbar beste Ablagesystem aller Zeiten verfügt. Grund genug für uns vom Nebelspalter, diese Mutter aller Ordnungssysteme einer historisch fundierten Würdigung zu unterziehen. Denn zum Bundesordner, den wir Schweizer zur Vollendung entwickelt haben, gibt es erstens keine Alternative und zweitens eine Vorgeschichte, in der es an Wörtern mit den Vorsilben «Bundes» nicht mangelt.

Wer hats erfunden?
Bekanntlich strotzt die Bibel von Übersetzungsfehlern: Der Auszug der Israeli aus Ägypten war kein Brexit. Moses sagte nicht zu Pharao: «Let my people go!», sondern: «Jetzt giz denn grad Lämpe!», denn Moses war ein Schweizer, wie unsere Quellenforschung offenbarte. Nach Überwindung diverser Komplikationen liess der Pharao Moses mit seinen Leuten dann doch abziehen. Später wird berichtet, «Herr Zebaoth» habe Fähnleinführer Moses am Berg Sinai die «zehn Gebote» um die Ohren gehauen, weil das Volk gekokst hätte und um ein «goldenes Kalb» getanzt sei – heutige Bezeichnung: «Börsenhandel mit Wertpapieren». Anschliessend habe DHL die Dokumente übernommen und dieselben in einer sogenannten «Bundeslade» abtransportiert. Weitere biblische Fake News: Es waren keine zehn Gebote, sondern das Obligationenrecht; sie lagen nicht in der Bundeslade, sondern waren in zehn Bundesordnern abgeheftet; der Gesetzgeber hiess nicht Zebaoth, sondern Tell Wilhelm. Es handelte sich bei diesen ersten Ordnern Schweizer Bauart um das Modell «Retro», das gemäss Herstellerangaben «mit Panzerrand veredelt und Strong-Mechanik ausgerüstet» war.

Diese Spezifikationen wurden auf Wunsch von General Guisan eingeführt, der im Lastenheft gefordert hatte, dass militärtaugliche Ordner «Panzerschlachten im Raum Olten» klaglos zu überstehen hätten. Unsere Recherchen haben ferner ergeben, dass auch unser Bundesbrief von 1291 in «Retro»-Bundesordnern abgeheftet war, bevor er der Bundes-SVP in die Hände fiel und zu Wahlkampfmaterial verwurstet wurde.

Fazit: Patriotische Journalisten wie wir ordnen den Bundesordner nicht als irgendein Ablagesystem ein, sondern sehen in ihm ein Bekenntnis zum Vaterland und halten seinen Einsatz in der Arbeitswelt für genauso wichtig wie Demut und Folgsamkeit unseren Vorgesetzten gegenüber.

Jan Peters

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