Eine Kindheit im Wunderland

Eine Kindheit im Wunderland

Die oft leicht amüsiert betrachteten 1950er-Jahre, an denen persönlich teilzunehmen ich die grosse Ehre hatte, waren nicht nur das Zeitalter oft zitierter stilistischer Fehltritte wie Nierentischchen, Petticoats und Tütenlampen, sondern auch und gerade eine Periode des gesellschaftlichen Neuanfangs und des Ärmelhochkrempelns. Träumte Wilhelm II. in seinem imperialistischen Grössenwahn noch davon, Deutschland einen ‹Platz an der Sonne› zu erobern, so kämpfte die Bundesrepublik darum, sich durch eigene Leistung und Tüchtigkeit einen Platz in der westlichen Wertegemeinschaft zu erkämpfen. Was beispielsweise in bester deutscher Militärtradition durch die Aufstellung der Bundeswehr im Jahr 1956 gelang. Getragen von zahlreichen Angehörigen der alten Hitler-Wehrmacht, sahen sich diese allerdings ab dem Zeitpunkt der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 ausschliesslich der Demokratie verpflichtet. Das unselige alte Gedankengut gaben sie bei den neuen Kreiswehrersatzämtern ab, damit wollte keiner mehr etwas zu tun haben; es ging schliesslich um Aufbruch und Neuanfang!

«Tor!! Tor!! Tor!!»

In meiner Schreibstube steht noch immer das funktionsfähige alte Röhrenradio, in das mein Bruder und ich am 4. Juli 1954 beinahe hineingekrochen wären, als Deutschland gegen Ungarn spielte und Herbert Zimmermann das ‹Wunder von Bern› mit einer solchen Verve schilderte, dass wir anfangs fälschlicherweise vermuteten, Parteigenossin Riefenstahl drehe im Wankdorf eine Neuauflage ihres Nazi-Heldenepos ‹Triumph des Willens› und liesse das Stadion zwecks Steigerung der dramatischen Wirkung von der Legion Condor in mehreren Angriffswellen in Grund und Boden bombardieren. Das legendäre ‹Wunder von Bern› war aber längst nicht das einzige Wunder, es gab noch viel mehr in dieser Zeit, von denen ich nur einige ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erwähnen möchte.

Wenn das der Führer wüsste!

Die Erwachsenen waren in den 1950er-Jahren sehr mit dem von Ludwig Erhard angeordneten Wirtschaftswunder beschäftigt. Darum fehlte ihnen die Musse, uns Grünschnäbeln lang und breit  zu erklären, was sie von 1933 bis 1945 gemacht hatten. Ausserdem waren wir noch viel zu klein, um das zu kapieren – «Kinder, lasst mal die dämliche Fragerei, macht lieber eure Hausaufgaben!» Wir wunderten uns zwar, warum unsere Vorfahren regelmässig zur Attacke übergingen, wenn wir nach dem 3. Reich fragten, konnten aber mit unserer Neugierde bis 1968 nichts bewirken. Ausser, dass wir regelmässig einen Satz Ohrfeigen kassierten, wenn wir darüber belehrt wurden, dass «das mit den Juden» nur Himmler, Heydrich und maximal 30 Mann in der SS gewusst hätten. In der Wehrmacht war darüber nie etwas bekannt geworden. Man hatte auch gar keine Zeit für solchen Quatsch, schliesslich war man im Zusammenhang mit dem Unternehmen Barbarossa gegen den Iwan angetreten: «Und das war kein Zuckerschlecken, Kinder!»

Jagdfliegerin schiesst Klapperstorch ab

Dann brach das Wunder der Sexualität mit Macht über uns herein: durch die Testpilotin Beate Uhse, die in Hermann Görings Luftwaffe gedient hatte. Von 1945 bis zur Aufstellung der Bundeswehr waren die Berufsaussichten für Kampfpiloten miserabel. Das brachte die arbeitslose Frau Uhse auf sonderbare Ideen, die ihren Höhepunkt in der Hypothese fanden, der Mensch pflanze sich geschlechtlich fort. Dies wurde mit Erstaunen betrachtet, war man doch bis dato davon ausgegangen, dass sich der Mensch berührungslos reproduziere und der Storch die Babys in die Kreisssäle trüge! Beate Uhses enormes Potential als Volksaufklärerin wurde zunächst nicht erkannt, vielmehr hielt man sie für ein ausgemachtes Ferkel.

Musik liegt in der Luft

Die Zeit der Militärmärsche in Deutschland war nach dem Krieg ein für alle Mal vorüber, niemand wollte mehr den Yorckschen Marsch und Co. hören – ausser beim Grossen Zapfenstreich. Aus den Wurlitzern in den Milchbars tönten die ‹Drei Peheiros› und ‹Friedel Hensch und die Cypris›, Conny Froboess packte jubelnd ihre Badehose ein und fuhr raus zum Wannsee, wo mal eine Konferenz stattgefunden hatte, von der nach dem Krieg keiner mehr etwas wusste. Die ganze Musik war neu und voller Magie: Als Freddy Quinn ‹Junge, komm bald wieder› sang, schmolz regelmässig die Butter im Kühlschrank, und aus Max Greger an der Hammondorgel machte der Volksmund den ‹Hauptfeldwebel Greger an der Stalinorgel› – der Krieg warf lange Schatten, und alles war beim Führer auch nicht schlecht gewesen.

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