Verehrtes Publikum
Bei unserem letzten Stelldichein hatte uns Frau P. von ihrer ersten Fahrt zu den Niedersachsen berichtet. Hier nun der Tragödie 2. Teil.
Während Heinrich Heine zu seiner Harzreise lyrisch anhebt: «Auf die Berge will ich steigen, wo die dunklen Tannen ragen, Bäche rauschen, Vögel singen und die stolzen Wolken jagen.», wählt Frau P. einen pragmatischen Ansatz: «Wenn es hier bloss nicht so saukalt wäre. J.s Vater hat gesagt, richtig wohl fühle sich der Harzer erst bei 10° minus und schneidigem Ostwind. Dann stehen die Männer früh um 6 im Unterhemd vor der Tür und rufen zum Nachbarn hinüber: ‹Angenehm frisch heute!› Um die langen Winter zu überstehen, werden die Frauen im Herbst dazu abgestellt, Holz zu hacken, Sauerkraut einzulegen und Briketts zu stapeln.
Das Essen ist gewöhnungsbedürftig. Es gibt Gerichte, die SchweizerInnen noch nie zu Gesicht bekommen, geschweige denn gegessen haben: Grünkohl mit Bregenwurst, Sauerfleisch mit Bratkartoffeln (mit Speck und Schmalz zubereitet), Hackus und Knieste sowie Harzer Jägerschnitzel mit Blaubeerschmand. Diese Sauce erinnert in ihrem Aussehen weniger an ein Lebensmittel als vielmehr an die Farbe des Rheins bei Basel nach einem Malheur in der Chemieindustrie. Abends sitzen die Männer am Stammtisch, bechern Bier und Korn und singen: ‹Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen!›
Als die Leute herausfanden, dass ich Schweizerin bin, ermahnten sie mich, in Niedersachsen zwei Fauxpas nicht zu begehen: Hannower statt Hannofer zu sagen und Niedersachsen mit Sachsen zu verwechseln. Die Nonchalance der Pariser Bohème ist den Niedersachsen nicht zu eigen, dafür sprechen sie in der Regel astreines Hochdeutsch. Was man den Sachsen nicht nachsagen kann; wenn die reden, ‹fällt einem der Draht aus der Mütze›, wie J.s Vater meint. Karl der Grosse hat 782 in Verden an der Aller ca. 4500 Sachsen zum Schweigen gebracht. Seit ich gehört habe, wie die Sachsen reden, habe ich dafür ein gewisses Verständnis.»