Das Frankfurter Bekenntnis

Das Frankfurter Bekenntnis

John Maynard Keynes, der mit seiner 1921 veröffentlichten Doktorarbeit die erste systematische Darstellung der logischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeit lieferte, äusserte einmal: «Die Liebe zum Geld ist eine Krankheit.» Und diese Krankheit hat inzwischen einen festen Sendeplatz im deutschen TV-Abendprogramm, wenn die Zuschauer im täglichen Börsenbericht darüber informiert werden, was die rätselhaften ökonomischen Mächte an der Frankfurter Börse getrieben und bewirkt haben und was sie dem Verbraucher bezüglich dessen Marktverhaltens vorzuschreiben geruhen.

Der Börsenbericht hat das «Wort zum Sonntag» bei den Einschaltquoten längst um Lichtjahre hinter sich gelassen und somit dem Finanzkapitalismus neben seiner Hauptaufgabe der permanenten Profitmaximierung auch eine genuin seelsorgerische Funktion zugewiesen. Dass der systemstabilisierende Neo-«Liberalismus» dabei undercover Freiheit durch Unterwerfung predigt, nimmt die Investorenschaft klaglos hin, solange die Rendite stimmt.

Anbetung des überirdischen Wesens

Der Börsenbericht vor der Tagesschau ist nur ein Teil dieses Systems – Baustein einer Weltanschauung, gemäss derer der Einzelne den mystischen Kraftfeldern der Märkte schicksalhaft ausgeliefert ist, was ihm durch die Börsenpriesterschaft gebetsmühlenartig und unter Androhung des Verlusts der ewigen Glückseligkeit beim Abfall vom Glauben verkündet wird. Diese Herolde der dunklen Seite der wirtschaftlichen Macht werden immer wichtiger. Heute beanspruchen sie die gesellschaftlich hervorgehobene Stellung, die in der Urhorde die Schamanen innehatten. Und sie dulden keinerlei Widerspruch, wenn sie die goldglänzende Monstranz, in der sich die Aktienindices befinden, vor der ehrfürchtig niederknienden Gemeinde erheben: «Seht den Markt, ER will es so!»

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Die neue Religion verabreicht ihre Heilmittel allerdings nicht mit der Holzhammermethodik eines Quacksalbers, sondern schleicht sich homöopathisch sanft und gemäss dem bewährten Verfahren des «steten Tropfens» bei der Zielgruppe ein:
1. Die Märkte werden dabei wieder und wieder wie eine höhere Wesenheit dargestellt und insofern verklärt, als ihr geheimnisvolles Wirken den normalen Sterblichen auf ewig verhüllt bleiben muss. Wehe, wenn der Schleier gelüftet wird – dann zerbricht der Zauber in tausend Stücke und verliert seine magische Wirkung!
2. Das Mantra der «freien» Finanzmärkte darf niemals in Zweifel gezogen werden; dieses Verbot besitzt den Rang und die Macht eines Tabus!
3. Die Sprache der Märkte ist deutungsbedürftig. Was wollen sie uns sagen? Beginn des Gottesdienstes und Auftritt des Orakels von Frankfurt am Main, das den Marktbewegungen einen tieferen Sinn ablauscht und der Gemeinde verkündet.

«Rücke vor bis zur Schlossallee»

Die dem breiten Publikum nicht bekannten, aber eigentlich ausschlaggebenden AGB sind Inhalt des mit Geheimtinte geschriebenen Hidden Curriculum, das dem Finanzkapitalismus als doppelter Boden eingezogen ist und als hoch verschlüsselte Software sein eigentliches Betriebssystem darstellt. Die Gesamtkonstruktion schliesslich ruht auf tönernen Füssen namens Hedge Funds, Futures, Forward Contracts, Swaps, Options, Gambles etc., die ihre Daseinsberichtigung aus ihrer Funktion als ephemere Garanten überhöhter Zinsen beziehen. Ihre Wohnsitze haben sie in anonymen Steuerparadiesen, ihre Halbwertzeit ist eng getaktet und vorsätzlich begrenzt. Urplötzlich verschwinden sie von den Radarschirmen wie der Malaysia-Airlines-Flug 370.

«Gehe sofort ins Gefängnis»

Es hat sich eingebürgert, die Zinsbewegungen an den Börsen als das unbestechliche Urteil der Märkte über die Solidität von Regierungen zu deuten; wohlgemerkt nach erfolgreichem Abschluss der Manipulationen durch Schwarze-Null-Anbeter wie Wolfgang Schäuble und andere willfährige Thatcher-Fans. In der Euro-Krise wurde der Mechanismus demjenigen, der Augen hat zu sehen, exemplarisch sichtbar: Die Märkte brechen in ihrer allmächtigen Richterfunktion über Staaten wie Griechenland oder Irland den Stab. Dass all dies von vorn bis hinten manipuliert war, blieb weitestgehend unerwähnt; zumindest in der bürgerlichen Presse, die selbst Teil und Profiteur des Systems ist. Es waren übrigens rein zufällig dieselben «neutralen» Märkte, die in den Jahren vor der US-Immobilien-getriggerten Krise Südeuropa aus ihren neoliberalen Füllhörnern bedenkenlos mit Krediten zu geringen Zinsen zuschütteten; nachdem sie Griechenlands Bilanzen schamlos frisiert hatten, um den Hellenen den Zugang zum Euromarkt zu ermöglichen, der inzwischen von den vereinten internationalen Heuschrecken und anderen verdeckt operierenden Marktteilnehmern zur «Bodenlosen Kreditanstalt GmbH & Co. KG» umfunktioniert worden war. Deutschland verdient übrigens ausgezeichnet an Griechenlands Elend.

Zurück in die Steinzeit

Man muss kein Anhänger finsterer Verschwörungstheorien sein, um zu erkennen, dass die geheimen Spielregeln der Finanzmärkte deutlich wichtiger als die offiziellen sind, die man in Anlehnung an ein altes marxistisches Diktum als das klassifizieren sollte, was sie sind – ein neoliberales Sedativum namens «Cannabis für Kreti & Pleti». Der nahezu unumstrittene Weltherrscher Neoliberalismus hat sich als Rechtfertigung für die offensichtlichen Ungleichgewichte bei der Einkommens- und Vermögensverteilung gleich selbst die Generalabsolution erteilt, indem er die merkwürdige Theorie verbreitet, dass die Summe der auf die Spitze getriebenen individuellen Raffgier auf wundersame Weise dazu führe, dass letzten Endes doch noch für alle etwas abfalle. Normale Menschen würden bei der Äusserung eines dermassen grotesken Blödsinns unverzüglich in der Irrenanstalt landen, Börsenbroker und Investmentbanker begründen mit solchen Hirngespinsten ihre Ansprüche auf Milliardengewinne. Nicht etwa aus Raffgier, oder weil sie den Hals nicht voll bekämen – Gott bewahre!! –, sondern weil es der höhere Wille der Märkte ist, der dies dem Homo oeconomicus unentrinnbar vorschreibt….
Und über allem liegt ein unausgesprochenes Denkverbot. Bei so viel atavistischer «Fortschrittlichkeit» könnte man fast meinen, der neoliberale Finanzkapitalismus hätte sich Sigmund Freuds «Totem und Tabu – einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker» als Blaupause für seine bewusst obskuren Konstruktionen bedient.

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