Wer in der Champions League der Präzisions-Chronometrie einen der vordersten Plätze beansprucht, für den empfiehlt es sich tunlichst, am unteren Rand des Zifferblatts den dezenten Herkunftsvermerk: «SWISS MADE» zu tragen. Und ganz oben im Firmament der internationalen Rangliste der Uhrmacherkunst leuchtet der Name einer im Schweizer Jura ansässigen Legende, einer von Chronometer-Aficionados jederzeit mit einem AAA+ gerateten Firma, die seit dem Jahr 1775 in einer eigenen Liga spielt: Um die Montres Breguet S.A. in L’Abbaye im Vallée de Joux ranken sich so klangvolle Namen wie Marie-Antoinette, Zar Nikolaus I., Sir Winston Churchill und Arthur Rubinstein – alle stolze BesitzerInnen[1] eines der feinmechanischen Breguet-Wunderwerke.
Die Geschichte der Schweizer Horlogerie begann Anfang des 18. Jahrhunderts. Bereits in dieser Zeit sprachen die Chronisten nicht von «Handwerkern», sondern von «Künstlern». Jeder Uhrenproduzent pflegte sorgsam seine eigenen Fabrikationsgeheimnisse und seinen historischen Mythos. Jehan-Jacques Blancpain, ein Pionier der Uhrmacherzunft, erkannte das Potential eines völlig neuen Wirtschaftszweigs und gründete 1735 diejenige Marke, die seither seinen Namen trägt, der untrennbar mit der Weiterentwicklung der mechanischen Uhrwerke verbunden ist. Bis heute wird das traditionelle Savoir-faire des Gründers gepflegt. Blancpain schaffte zu dieser Zeit ein Unternehmen, das später als älteste Uhrenmarke der WeIt bekannt werden sollte. Die Krönung seines Könnens stellt zweifellos das Modell 1735 dar – diese Uhr, die zur damaligen Zeit die komplexeste der Welt war, vereinte die grössten Komplikationen[2]: Minutenrepetition[3], Tourbillon, ewigen Kalender, Mondphasen und Chronograph mit Rattrapante[4]. Ein Uhrmachermeister benötigte ein ganzes Jahr, um dieses Kaliber zusammenzubauen.
Meilensteine der Uhrmacherkunst
Abraham-Louis Breguet (1747–1823), der sein Handwerk in Neuchâtel und Paris lernte, setzte Massstäbe, an denen sich die Haute Horlogerie bis heute messen lassen muss. Seine Erfindungen sind genauso vielfältig, wie sie von elementarer Bedeutung für die Uhrmacherei waren: die Tonfeder[5] für Repetieruhren, die erste axiale Stosssicherung[6], die Breguet-Spirale[7], die unverwechselbaren Breguet-Zeiger[8], die zur Legende geworden sind. Jede Uhr, die seine Werkstatt verliess, zeichnete sich durch ein Originalwerk aus, das zumeist mit einer von ihm perfektionierten Anker- oder Rubinzylinderhemmung[9] ausgestattet war. 1801 erhielt er das Patent auf den von ihm entwickelten Tourbillon, einen kleinen Käfig, der durch seine Rotation die störende Wirkung der Gravitation auf das lagesensible Schwingsystem einer mechanischen Uhr kompensiert und dadurch deren Ganggenauigkeit erhöht. Breguet wurde zum massgebenden Uhrmacher der damaligen wissenschaftlichen, militärischen, finanzkräftigen und diplomatischen Elite. Seine Zeitmesser wurden an allen europäischen Höfen hoch geschätzt. Wenn Sie diesen Meister aller Klassen der Uhrmacherkunst besuchen wollen, seine Grabstätte befindet sich auf dem Cimetière du Père-Lachaise im Osten von Paris.
Präzision in den Genen
Eine Wiege des späteren Markenzeichens für Luxus und Präzision stand in einem Bauernhaus im Schweizer Jura. Im kleinen Dorf La Côte-aux-Fées richtete Georges Edouard Piaget 1874 seine erste Werkstatt für Hochpräzisionsuhrwerke ein. Als Zulieferer renommierter Marken machte er sich bald einen Namen, denn die stark nachgefragten Piaget-Erzeugnisse zeichneten sich schon damals durch aussergewöhnliche Kunstfertigkeit aus. Mitte des 20. Jahrhunderts investierte Piaget in die Konzeption und Fabrikation ultraflacher Uhrwerke, einer Entwicklung für die gesamte Branche, die zu einem Charakteristikum des Hauses wurde. Blancpain, Breguet, Piaget sind nur eine Auswahl grosser Namen. Vacheron-Constantin, Ulysse Nardin, Moser oder Hublot gehörten ebenfalls zu den Gründungsmarken dieser Zeit. Die Produktion war in kleine Arbeitsvorgänge aufgeteilt und wurde an dafür ausgebildete Fachleute vergeben, die meistens zu Hause auf einem Hof arbeiteten, später auch in Ateliers unter Aufsicht von Meistern. 1830 waren noch 54 verschiedene Arbeitsgänge nötig, um eine Uhr herzustellen. Die Produktion lief in dieser Zeit auf Hochtouren.
Mächtige Konkurrenten
1876 wurde in Philadelphia die Weltausstellung eröffnet. Sie präsentierte eine Werkschau der amerikanischen Industrie. Die Abgesandten der Schweizer Uhrmacher-Kantone kehrten schockiert und fasziniert zurück, denn sie hatten in Philadelphia feststellen müssen, dass die amerikanische Uhrenindustrie im Begriff war, die schweizerische zu überholen. Amerikanische Uhren waren nicht nur billiger, sondern mindestens so gut wie die eidgenössischen. Die grossen Werkstätten in den USA funktionierten als moderne Produktionsanlagen, in denen viele Hundert Arbeiter mithilfe von Maschinen aus standardisierten Einzelteilen einwandfreie Uhren zusammensetzten. In den 1870er-Jahren stürzte die Schweizer Uhrenindustrie dadurch in eine gravierende Krise, die sie an den Rand des Zusammenbruchs bringen sollte. Der Siegeszug zur Eroberung der internationalen Märkte ging zu Ende. Stammten 1870 noch weltweit drei Viertel aller verkauften Uhren aus der Schweiz, so drängten immer mehr billigere amerikanische und deutsche Produkte sogar auf den Schweizer Markt.
Das Imperium schlägt zurück
Den Schweizern gelang es allerdings relativ schnell, eine eigene Serienproduktion aufzubauen. Die Fabriken wurden vom peripheren Schweizer Jura in das verkehrstechnisch günstigere flache Mittelland verlegt, und von 1882 bis 1911 verzehnfachte sich die Zahl der Fabriken. Die neuen Uhrmacher waren nicht mehr die «Künstler» von früher – solche gab es zwar weiterhin in den Freibergen, doch was diese dort produzierten, galt als hochpreisiges Luxusgut. Aber nicht nur die Produktions-, sondern auch die Arbeitsbedingungen befanden sich im Umbruch. In den Fabriken gab es fast wöchentlich Arbeitskämpfe um die Löhne. Die Produkteportfolios wurden umfassend geändert, zu den traditionellen Taschenuhren traten erstmals Armbanduhren – die Schweizer Uhrenfabrikation war in jeder Hinsicht in der Moderne abgekommen.
Wer zu spät kommt
Gemäss der alten Weisheit «Hochmut kommt vor dem Fall» geriet die stolze Schweizer Uhrenindustrie in den 1970er-Jahren in die grösste existenzbedrohende Krise ihrer langen Geschichte. Wieder einmal schien es, dass man sich auf seinen Lorbeeren ausgeruht und eine technische Entwicklung schlicht verpasst hatte. Erneut war die Konkurrenz billiger und, man musste es zugeben, auch besser. Die Japaner und die Amerikaner warteten nicht nur mit weitaus billigeren Uhren aus bedeutend grösseren Fabriken auf, sondern auch mit einer völlig neuen Technologie: der elektronischen Uhr mit hochpräzisem Quarzwerk[10]. Das Know-how dafür war in der Schweiz zwar seit den 1960er-Jahren vorhanden, wurde aber nicht weiter verfolgt, da man sich nicht dazu herablassen wollte, in grossem Massstab eine Technologie anzuwenden, die sogar ausländische Firmen beherrschten. Die Japaner liessen sich nicht lange bitten und fluteten den Markt mit ihren für jedermann erschwinglichen, präzise laufenden Quarzuhren. Diesmal dauerte die Rezession dramatisch lange 15 Jahre, die Hälfte der Schweizer Uhrenfirmen verschwand vom Markt.
It’s Swatch time…
Der Retter der Schweizer Uhrenindustrie hatte einen Namen: Nicolas G. Hayek. Als «schlafenden Giganten» bezeichnete dieser Vollblutunternehmer, der sich seine ersten Sporen als Unternehmensberater verdient hatte, die Schweizer Uhrenindustrie. Hayek verfolgte eine für die altehrwürdige Schweizer Uhrmacherkunst geradezu revolutionäre Doppelstrategie: Die billige Quarzuhr Swatch, die aus nur 51 Teilen bestand, wurde und wird von Automaten hergestellt. Ihr Pop-Design entwickelte sich zu einem Kultobjekt der nächsten Jahrzehnte, und es wurde in weiten Gesellschaftskreisen hip, zu jedem Outfit demonstrativ die passende Swatch zu tragen.
… not only
Andererseits wurde aber auch der traditionelle Mythos der Schweizer Luxusuhr von Nicolas Hayek neu belebt, indem die Swatch-Gruppe Marken diverse international renommierte Marken akquirierte. Damit schien alles wieder gut, die Schweizer Uhrenindustrie breit gefächert aufgestellt und somit krisenfester denn je: ChinesInnen wurden in Busladungen nach Interlaken und Luzern gekarrt, kauften in den dortigen Uhrengeschäften gnadenlos alles auf, was rhythmisch tickte und wie eine Schweizer Uhr aussah, und die im Privatjet eingeflogenen Ehefrauen schwerreicher Golfstaaten-Emire befanden in Genf, dass ein Swiss-made timepiece mit Brillanten besetzt sein müsse, über mindestens Tourbillon verfügen sollte und nicht unter CHF 350’000 kosten dürfe, um als standesgemäss durchgehen zu können. Wogegen die noblen Bijouterien und vornehmen Uhrenboutiquen an der Rue du Rhône, am Quai du Seujet und Umgebung keinerlei Einwände erhoben.
Der neue Retter – wie der alte?
Und dann kam Corona…; zusätzlich zu der dadurch ausgelösten internationalen Absatzkrise stellt sich in Zeiten von Smart watches, Activity trackern und Head-mounted displays à la Google Glass die Frage, ob die Zeit der klassischen Armbanduhr nicht ohnehin langsam abläuft und stattdessen die komplett digitalen Wearables das Kommando übernehmen werden. In diesem Sektor weist die Schweizer Uhrenindustrie einen beträchtlichen Rückstand gegenüber ihren alten Widersachern in den USA und Japan auf.
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Da kommt dem Chronisten der Schweizer Zeitmessung abschliessend in den Sinn, dass Nicolas Hayek einen Sohn hat, der allgemein Nick genannt wird. Seit etlichen Jahren bekleidet dieser Hayek jun. leitende Positionen in der Swatch Group. Womit der Filius von Wissen und Erfahrung her geradezu prädestiniert zu sein scheint, die Nachfolge seines Vaters als Retter der helvetischen Uhrenindustrie anzutreten.
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[1] Fast hätten wir im Eifer des Gefechts einen kleinwüchsigen korsischen Artillerieleutnant übersehen, … unverzeihlich! Seine «Breguet-Reise-Pendulette mit Kalender und Schlagwerk Nr. 178» schätzte Napoléon Bonaparte so sehr, dass er sie sogar während seiner Ägypten-Expedition der Jahre 1798 bis 1801 nicht missen wollte.
[2] «Komplikation» – jede Funktion einer Uhr, die über die reine Zeitanzeige hinausgeht: Datum, Mondphase etc.
[3] «Repetition» – akustische Signalisation des abgelaufenen Zeitintervalls; die Herstellung des dafür nötigen Repetitionsschlagwerks erfordert feinmechanische Premium-Kompetenzen.
[4] «Rattrapante/Schleppzeiger» – zweiter Sekundenzeiger, mit dem die Zeit gestoppt werden kann, ohne das Uhrwerk anzuhalten.
[5] «Tonfeder» – wesentlicher Teil des Schlagwerkes von Repetieruhren, das die Glocke ersetzt. Dadurch konnte nicht nur die Bauhöhe der Schlagwerkuhren wesentlich verringert, sondern zugleich deren Klangqualität verfeinert werden.
[6] «Axiale Stosssicherung» – elastisch gesichertes Lager, das dazu dient, Stösse gegen die Zapfen der Unruhwelle abzufangen. Bei harten Stössen gibt das Lager axial nach und bewahrt damit das Werk vor Schäden.
[7] «Breguet-Spirale» – charakteristisch für die Breguet-Spirale ist ein hochgebogenes äusseres Ende, das ein konzentrisches «Atmen» bewirkt. Dies verbessert die Gleichlaufeigenschaften des Kalibers.
[8] «Breguet-Zeiger» – Zeiger aus gebläutem Stahl (selten Gold), vor deren Spitze jeweils ein kleiner Kreis, die typische «pomme», eingelassen ist.
[9] «Hemmung» – Baugruppe in Räderuhren, die die Verbindung zwischen dem Räderwerk und dem Gangregler herstellt. Der Gangregler bewirkt über das in das Hemmungsrad eingreifende Hemmstück das periodische Anhalten des Räderwerks und damit den regelmässigen Gang der Uhr. Hochpräzise Armbanduhren verfügen in der Regel über die «Schweizer Ankerhemmung».
[10] MERKE: Eine ungenau gehende Quarzuhr zu produzieren ist ungefähr genauso schwierig, wie eine exakt tickende mechanische Uhr herzustellen.