Wird alles noch schlimmer kommen?

Wird alles noch schlimmer kommen?

Anhand eines praktischen Beispiels möchten wir an dieser Stelle der Frage nachgehen, ob sich unter dem Einfluss des Internets, der Digitalisierung und der sozialen Netzwerke an der Art und Weise, wie die Medien über Tagesereignisse berichten, etwas Grundsätzliches geändert hat und ob dies unter Umständen unsere Sicht auf die Welt und das Leben mittel- bis langfristig beeinflussen könnte.

Ausgangslage: Hierzu treffen wir einige Annahmen: «Nach längerer Trockenheit in der ersten Hälfte des Jahres regnet es in Niedersachsen vom September bis in den November regelmässig. Daraufhin pegelt sich das Grundwasser wieder auf der normalen Höhe ein. Den deutlich zu warmen Wintern der Vorjahre folgt nach regenreichem Herbst eine Frostperiode mit weit unter dem Durchschnitt liegenden Temperaturen.» Die journalistische Aufarbeitung dieser Sachlage, sprich Berichterstattung, nehmen wir im Folgenden einmal nach der «traditionellen» und einmal nach der «heutigen» Verfahrensweise vor.

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Traditionelle Berichterstattung:

Landwirtschaft erleichtert über Normalisierung der Witterung

(Gottfried Bauerochse • 15. September 2019)

Machte sich unsere Bauernschaft Mitte des Jahres noch schwere Sorgen um drohende Ernteausfälle wegen akuter Trockenheit, so brachten die Regenfälle der letzten Woche die tiefen Falten auf den Stirnen der Landwirte wieder vollständig zum Verschwinden.

Die Erleichterung stand Hermann Bauerochse, Obmann der niedersächsischen Landwirtschaftskammer, deutlich ins wettergegerbte Gesicht geschrieben, als er vor der zahlreich versammelten Presse erfreut mitteilte, dass sich das Landvolk voller Dankbarkeit und Zufriedenheit auf das Anfang Oktober anstehende Erntedankfest vorbereiten könne: Der Herrgott habe ein Einsehen mit den Landwirten gehabt und gerade rechtzeitig Ende August und in den Folgewochen die Himmelsschleusen geöffnet und die dringend nötigen Niederschläge grosszügig über das strohtrockene Land verteilt. Seine Berufskollegen und er selbst als Präsident seien zutiefst erleichtert und sähen mit Zuversicht der Zukunft entgegen.

Aus dem Füllhorn

So mache dem «fröhlichen Landmann» das Leben auf der heimischen Scholle wieder Spass, und es sei eine Freude, dass man unter diesen nahezu idealen Bedingungen die Bevölkerung mit einer mehr als ausreichenden Menge von Qualitätsnahrungsmitteln versorgen könne. Das reichhaltige kalte Büffet, das die Landfrauen für die Damen und Herren von der Presse vorbereitet hatten, legte unübersehbares Zeugnis davon ab, dass sich unsere Landwirtschaft im internationalen Wettbewerb wahrlich nicht zu verstecken braucht!

 

Zieht Euch warm an!

(Karl Praedel • 3. Februar 2020)

Nachdem das Wetter niederschlagsmässig ab Ende August gerade noch mal die Kurve gekriegt hatte (wir berichteten im September darüber), hat sich Väterchen Frost ab Januar am Riemen gerissen und nicht nur nachts, sondern auch tagsüber dafür gesorgt, dass die derzeitig sehr frische Witterung nach den eher mickrigen Vorgängern der vergangenen Jahre dem Namen «Winter» endlich einmal wieder alle Ehre macht. Einzig und allein die Kraftfahrer mögen wohl derzeit keine überschwänglichen Loblieder auf die kalte Jahreszeit anstimmen; aber da müssen sie einfach durch, wenn in diesem knackigen Winter wieder einmal die alte Automobilisten-Weisheit  zu 100 % zutrifft, dass die Götter vor den frostigen Frühstart das Freikratzen der Windschutzscheibe mit eiskalten Pfoten gesetzt haben!

Das grosse Wintervergnügen

Nahezu alle unserer Seen und Gewässer sind zur Freude der jubelnden Kinderschar mit einer tragfähigen Eisschicht überzogen, Schlittschuhlaufen avanciert derzeit auch bei uns mit Macht zu einem beliebten Volkssport, wie ihn der Holländer auf seinen Grachten und Kanälen von jeher mit Hingabe betreibt, und die Zugspitze, höchster Berg der Bundesrepublik, meldete rekordverdächtige Minuswerte. Dies ist auch den früher vom Abschmelzen bedrohten Alpengletschern nicht entgangen, die zur unverhohlenen Freude der Meteorologen und Glaziologen auf die anhaltende Kälteperiode endlich einmal wieder mit kräftigen Wachstum reagieren und ihre dicker werdenden Eiszungen vorwitzig in die Täler hinabschieben. Da soll noch einmal einer sagen, früher sei alles besser gewesen!

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Heutige Berichterstattung:

(Damit die Timeline stimmig bleibt, ist es zwingend notwendig, den folgenden Artikel «Missernte durch Klimazusammenbruch» von unten nach oben zu lesen; d.h., Sie beginnen bei – Lesegrenze unten – zu lesen und hören bei – Lesegrenze oben – auf. Bestätigen Sie, dass Sie diese Anweisung verstanden haben, indem Sie auf den gelben Button klicken:  😊

– Lesegrenze oben –

Missernte durch Klimazusammenbruch – und es kommt noch schlimmer!

(Richard Rollwaage • 15. September 2019)

Als ob die an die Sahelzone erinnernde Dürre des Sommers nicht schon verheerend genug gewesen wäre – jetzt drohen zu allem Überfluss auch noch Regenfälle. Den Landwirten treibt es den Angstschweiss auf die Stirn, wenn sie an die gravierenden Ernteausfälle denken. Niederschläge werden zum jetzigen Zeitpunkt als kontraproduktiv angesehen: «Dann lieber acht Monate weitere Sommerdürre!», wie die Klosterkammer Hildesheim kürzlich der Öffentlichkeit mitteilen liess.

  • Update 15. September, 16:38 Uhr: Regierung gibt BRD komplett auf; schwere Pioniereinheiten der Bundeswehr sprengen Berliner Reichstagsgebäude; Kabinett beantragt Asyl auf Nowaja Semlja. Wladimir Putin warnt NATO vor unüberlegten Nacht-und-Nebel-Aktionen: «Westliche Aggressoren werden ihr Waterloo erleben!» – Regierungssprecher über deutsche Bevölkerung: «Sollen die Blindgänger doch sehen, wie sie ohne uns klarkommen!»
  • Update 15. September, 4:05 Uhr: Auf Helgoland brechen verheerende Waldbrände aus; gigantische Rauchwände kontinentalen Ausmasses bringen Seefahrt auf der Nordsee völlig zum Erliegen; Massenkarambolagen bei Elbe I; Schiffswracks machen Scharhörn-Riff zum grössten Schiffsfriedhof der Welt. Aktienmärkte reagieren mit Panikverkäufen; Ölpreis geht durch die Decke. – Börsenhändler in Frankfurt überzeugt: «Das ist erst der Anfang!»
  • Update 14. September, 23:59 Uhr: Eine Mitteilung aus dem Innenministerium lässt aufhorchen: Ständiger Wechsel von Regen und Trockenheit überfordert unsere Vegetation; Pflanzen brauchen Beständigkeit, um gedeihen zu können; Wachstum zum Erliegen gekommen; Vegetation am Boden. Regierung erwartet Hungersnöte wie im Mittelalter; Landflucht und Massenauswanderung nach Neuseeland und Australien nicht mehr auszuschliessen; gesamte BRD wird zur Wüstung. Innenminister: «Wir sitzen alle im selben Boot.»; Opposition: «Stimmt – wir schinden uns ab wie die Galeerensklaven, Ihr schont Euch für die Pensionierung!»
  • Update 14. September, 23:13 Uhr: Vegetation von Wetterkapriolen auf falschem Fuss erwischt; Pflanzen stellen Wachstum demonstrativ ein. Regierung in Panik; überstürzte Ausgabe von Lebensmittelkarten. Kinder auf Quäker-Speisung aus Amerika angewiesen. Hungernde Obdachlose betteln aggressiv vor Kirchen. Männerwohnheim der Heilsarmee in Hamburg-Altona wegen mehrerer Kannibalismus-Vorfälle geschlossen. – Polizeisprecher: «In meinen 32 Dienstjahren hab’ ich so was noch nicht gesehen!»
  • Update 14. September, 19:02 Uhr: Was Experten prophezeit hatten, jetzt tritt es sogar heftiger und früher ein als erwartet: Auf trockenen Boden prasselnder Regen führt zu keiner Beendigung der Trockenheit, sondern erhöht sie sogar noch weiter; Meteorologen warnen, dass es noch schlimmer komme: steigender Grundwasserspiegel führe zum Verfaulen der Pflanzenwurzeln, Lebensmittelknappheit und Teuerung als zwangsläufige Folge. – Regierungssprecher zur Gesamtlage: «Jetzt ist guter Rat teuer.»
  • Update 14. September, 16:39 Uhr: Nach Trockenheit drohen Überschwemmungen; Agronomen äusserst besorgt wegen katastrophaler Ernteaussichten –  jetzt komme es auf jedes Weizenkorn an. Bauernsprecher: «Wir sehen schwarz!» Grundschulen geschlossen; Kinder auf Ostlandverschickung. Konsumentenschützer: «Wer denkt an uns?» – Landwirtschaftsministerium: «Wir nicht.»
  • Update 14. September, 16:35 Uhr: Unterirdische Stimmung in der Landwirtschaft – Ernteausfälle existenzbedrohend; Hartz IV für unseren Nährstand; viele am Existenzminimum. Sprecher des Landvolks: «Lange halten wir das nicht mehr durch!» Fridays-for-Future-Kids: «Wir fordern Klimagerechtigkeit!» – Bundesverband der Deutschen Industrie BDI: «Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Fresse halten!»
  • Update 13. September, 8:19 Uhr: Landwirtschaftskammer Niedersachsen warnt auf Pressekonferenz vor Missernte; Bevölkerung müsse sich auf stark sinkende Ernteerträge einstellen; rasante Preiserhöhungen bei Grundnahrungsmitteln nicht mehr auszuschliessen. Ende der Fahnenstange nicht in Sicht; Zukunftsaussichten mehr als trübe.
  • Update 13. September, 2:02 Uhr: Pessimismus greift weiter um sich; Sekten und Endzeitpropheten erhalten massenhaft Zulauf. Nostradamus-Weissagung aktueller denn je: «Wenn die Pestzeichen am Himmel stehen, ist das Ende nahe!» Katholische Landbevölkerung aus dem Eichsfeld veranstaltet Springprozession nach Hildesheim; Bischof der Untätigkeit bezichtigt; erstmals Sprechchöre vor dem Dom: «Lieber Türk‘ als Pfaff‘!»
  • Update 12. September, 0:02 Uhr: Wegen miserabler Ernte werden Preise nicht gehalten werden können; Bevölkerung wird für Kartoffeln & Co. massiv tiefer in die Tasche greifen müssen; Essen wird für die Mittel- und Unterschicht zum Luxus. Wovor Experten schon länger gewarnt haben, jetzt wird es manifest: Ernteausfälle lassen Preiserhöhungen befürchten. Nicht nur wegen der Trockenheit des Sommers, sondern auch wegen überhöhter Bodenfeuchtigkeit durch unerwünschte Niederschläge. Folgen nicht absehbar.
  • Update 11. September, 4:23 Uhr: In Niedersachsen beginnt es überraschend zu regnen; Trockenheit abrupt beendet; Niederschläge fallen auf ausgedörrten Boden. Kann dies den Wassermangel beheben? Fachleute meinen: eher nicht! Und es kommt noch schlimmer – durchtränkte niedersächsische Böden verdreifachen ihr Bodengewicht; Küstenstreifen in Mecklenburg-Vorpommern/Schleswig-Holstein hebt sich um zwei Meter fünfzig; Häfen vom Meer abgeschnitten; Heringsflotte gestrandet; Dorschfischer versenken sich mit ihrer kompletten Flotte demonstrativ im Skagerrak; Kieler Landwirtschaftsministerium: «Fangquoten-Diskussion damit vom Tisch.»
  • Update 10. September, 0:00 Uhr: 63 Insassen renommierter Mecklenburger Seniorenresidenz mumifiziert aufgefunden – Pflegepersonal hatte sich in Hoffnung auf höhere Gehälter nach Nordrhein-Westfalen abgesetzt; NRW-Innenminister: «Wir sind selbst am Limit!» Plünderungen von Aldi- und Lidl-Märkten häufen sich; zahlreiche Tankstellen von Anarchistengruppen in Brand gesteckt. Verteidigungsminister: «Wenn Euch das Fell juckt, Sportsfreunde, da können wir was gegen unternehmen!» – Armee in Alarmbereitschaft versetzt; bewaffneter Einsatz gegen Bevölkerung nicht mehr auszuschliessen.
  • Update 09. September, 8:00 UHR: Situation in der Landwirtschaft wegen fehlender/zu hoher Niederschläge immer bedrohlicher. Hessischer Landwirtschaftsminister: «Es sieht bees aus!»; Innenminister: «Kein Grund zur Panik, Lage unter Kontrolle.» – Opposition: «Was denn nun?»

– Lesegrenze unten –

Kälteeinbruch führt zu massiver Eisschmelze

(Stefan Steinhäger • 3. Februar 2020)

Während im Sommer noch verbreitet über die unerträgliche Hitze geklagt wurde, die zu Trockenheit und Ernteausfällen führte, hat ein stabiles kontinentales Hoch sibirische Kälte nach Mitteleuropa gebracht. Einen Tiefpunkt erreichten die Temperaturen im Alpenraum, wo das Quecksilber wochenlang auch tagsüber nicht über minus 10 Grad stieg. Wer nun aber meint, dies könne die verheerende Gletscherschmelze der letzten Jahre stoppen oder gar umkehren, hat eine aussergewöhnliche Eigenschaft des Gletschereises nicht ins Kalkül gezogen – das sogenannte «Firngedächtnis».

Glazialer Zeitversatz

Im Gegensatz zu künstlichem Eis, wie wir es aus dem Gefrierfach unserer Kühlschränke kennen, reagiert Gletschereis, das noch ein echtes Naturprodukt darstellt, nur sehr langfristig bis überhaupt nicht auf Temperaturänderungen. Populärwissenschaftlich ausgedrückt: Gletschereis «merkt» sich die Temperaturminima und -maxima. Im Klartext heisst dies: Gerade jetzt, wo es besonders kalt ist, «erinnert» sich der Gletscher daran, wie angenehm warm es im Sommer war und wie er damals daraufhin reagiert hat – getriggert von kybernetischen Prozessen, die in seinem Inneren vollautomatisch ablaufen, rekapituliert er diesen Mechanismus und beginnt zu schmelzen; und zwar heftig und völlig abgekoppelt von der «tatsächlich» in seinem Umkreis herrschenden Temperaturen. Wer nun aber meint, umgekehrt wäre dies genauso der Fall (Temperaturanstieg = Eiszunahme), der hat im Physikunterricht offensichtlich einen Fensterplatz gehabt.

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Fazit: Mit diesem kleinen Ausflug in die faszinierende Welt des (wissenschaftlichen) Journalismus sollte Ihnen einerseits der gravierende Unterschied zwischen «traditioneller» und «heutiger» Berichterstattung deutlicher geworden sein. Andererseits dürfte aus dem letzten Absatz deutlich geworden sein, dass die Welt der Physik doch um einiges komplizierter ist, als sich das BILD-Zeitung lesende Lieschen Müller dies vorgestellt hat.

 

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