An einem lichten Herbsttag des Jahres 19.. waren wir frohen Mutes aufgebrochen, um die Ostalpen zu erkunden – eine Gruppe Frankfurter GeographInnen, die grenzenlose Neugierde auf die Natur, die Wissenschaft und das Leben beflügelte.
In Altötting gerieten wir in einen mittelalterlichen Flagellantenzug: «Gegrüsset seist Du, Maria, voll der Gnade, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes.» Die Büsser zogen wehklagend nach Golgatha, wir jauchzend zum ‹Gockerlwirt›.
Auf der Festung Salzburg erhielten wir einen Vorgeschmack von der Wucht des Gebirges – ein eiskalter Wind blies uns ins Gesicht. Geologische Übungen für Fortgeschrittene: «Beweisen Sie, dass die Nördlichen Kalkalpen vor 200 Mio. Jahren mal die Südlichen waren.» Alpine Tektonik erreicht Dimensionen solch dramatischen Ausmasses, dass wir an dieser Stelle dem Erzengel Gabriel einen Auftritt verschaffen wollen: «Und Fels und Meer wird fortgerissen in ewig schnellem Sphärenlauf. Und Stürme brausen um die Wette, vom Meer aufs Land, vom Land aufs Meer.»
Die Hohen Tauern. Zu Füssen des Herrschers der Fels- und Eiswüste die Pasterze – von Abtragungsschutt wie ein Hermelingewand gefleckte Thronschleppe seiner Hoheit, des Grossglockners. Stundenlang waren wir auf dem knisternden Tatzelwurm herumgekraxelt, hatten wacklige Gletschertische angestaunt, schaudernd in blaugrüne Abgründe geblickt und tosenden Schmelzwässern gelauscht, die unaufhörlich Tunnel in Moränen gruben und Gletschermühlen in den Fels frästen.
Dann sassen wir auf einer bunten Wiese und sahen einer Schar betriebsamer Murmeltiere bei ihrem Treiben zu. Zwischen uns blühte eine kleine blaue Blume, der Wind machte Dir eine verwegene Frisur, und keine lachte so ausgelassen wie Du.
Eines Tages werden wir zum Grossglockner zurückkehren – ich weiss es genau. Die Murmeltiere werden uns begrüssen, und der Wind wird sanft Dein Haar streicheln. Dann werde ich die kleine blaue Blume pflücken und sie Dir ins Haar stecken. Dort wird sie niemals verwelken.