«Ich glotz’ TV!»

«Ich glotz’ TV!»

Verehrtes Publikum

«TV ist ʼne Droge, TV macht süchtig, TV, TV, TV…» kreischte einst die Rockröhre Nina Hagen, das Enfant terrible der DDR-Musikszene, die als «Godmother of Punk» in die Annalen der Popmusik eingegangen ist. Die schrille Lady kam zu hohen staatspolitischen Ehren, als die scheidende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Zapfenstreich Nina Hagens «Du hast den Farbfilm vergessen» spielen liess.

Die TV-Übertragung hatte, was der Zuschauerschaft überwiegend entgangen sein dürfte, eine gewisse Tiefenstruktur; es darf bezweifelt werden, dass die Nonkonformistin Hagen Freude an Preussens Gloria hatte und beim «Tschingderassabum» des Stabsmusikkorps der Bundeswehr in den Stechschritt des Wachregiments «Feliks Dzierzynski» verfiel.

Zweitens, und dies ist Frau Merkels bisher unentdecktem Sinn für hintergründigen Humor geschuldet, ist Nina Hagens «Micha, mein Micha, Du hast den Farbfilm vergessen» kein oberflächliches Liedchen und seichte Klage über vermasselte Urlaubsfotos, sondern war massive Kritik am grauen DDR-Alltag. Merkels Musikwahl – späte Rache an E. Honeckers Arbeiter-/Bauernstaat.

«Ich glotzʼ TV!»; manchmal schaue ich Sportsendungen. Fiel früher ein Tor, dann pfiff der Unparteiische und deutete, keinen Widerspruch duldend, auf den Mittelpunkt des Feldes. Wenn das einem in der Gegenmannschaft nicht passte und er dies bekundete, flog er hochkant vom Platz – ENDE DER DURCHSAGE! Heute werden Videokonferenzen abgehalten, ob jemand möglicherweise 1 mm im Abseits stand. Demnächst werden Goalies nach dem Torschuss durch ein Care Team betreut, um posttraumatische Belastungsstörungen zu verhindern.

Nicht nur der Fussball, auch die Qualität der Berichterstattung hat sich allgemein geändert. Kürzlich im Meteo: «Die Regenwolken fegten jedoch mit hoher Geschwindigkeit durch das Jura. Den Höhepunkt der Hitzewelle erwarten wir am Montag mit 35°. Am Donnerstag dann 38°.»

Weiter so, und ich kreische mit Nina Hagen: «Ich krieg ʼne Meise, ich glotzʼ TV!»

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