Verehrtes Publikum
Vor etlichen Jahren arbeitete ich in der Marketingabteilung einer Firma, deren Verwaltungsrat eines Tages auf die glorreiche Idee kam, an die Börse zu gehen. Gesagt, getan: Der finanzielle Erfolg war tatsächlich beeindruckend. Dann aber geschah etwas, was ich in solch abgrundtiefer Ausweglosigkeit bis dahin nur aus klassischen griechischen Tragödien von Sophokles, Aischylos und Co. gekannt hatte. Und das kam so:
Nachdem der erste Goldrausch abgeklungen war und die Dollarzeichen in den Augen des Managements nach und nach zu verblassen begannen, wurde eine eher lästige Begleiterscheinung des Börsenganges ruchbar – ein Jahresbericht musste her. Woraufhin mein dynamischer Chef in mein Büro gestürmt kam, mich fixierte und fragte: «Waren Sie nicht mal Deutschlehrer?» Reumütig gestand ich diesen Fehltritt ein. «Dann schreiben SIE unseren ersten Jahresbericht!» – Ganz leise stellte sich mir die schlichte Frage, wie man so etwas macht.
Zunächst nahm ich Kontakt mit den Bereichsleitern auf und bat sie, mir schriftlich mitzuteilen, was bei ihnen kürzlich an Bemerkenswertem vorgefallen sei. Der Einkauf teilte mir mit, dass in seinem Bereich eine «recht eigentliche Einkaufsoffensive» stattgefunden habe; die IT-Abteilung teilte mir mit, dass bei ihnen eine «recht eigentliche IT-Offensive» stattgefunden habe; die Logistik teilte mir mit, dass bei ihnen eine «recht eigentliche…».
Man schien den Begriff copy writing (= texten) mit dem Computerbefehl copy and paste verwechselt zu haben. Mit List und Tücke gelang es mir, meinen Chef dazu zu becircen, den Jahresbericht extern zu vergeben. Sollten die doch sehen, wie…
Gerade wollte ich mich auf den Weg nach Mariastein machen, um der Muttergottes eine Kerze zu spenden, als das Telefon läutete: «Grüezi, Herr Peters, wir sind die Agentur, die für Sie den Jahresbericht macht. Jemand aus Ihrer Firma hat uns anderthalb Seiten seltsame Textfragmente geschickt. Das ist für Sie doch sicher kein Problem, da bis Ende der Woche präsentable Artikel draus zu machen. Wir mailen Ihnen das mal. Sie haben 12 Seiten Platz im Layout.»
Vor der Bürotür hörte ich Schillers Rachegöttinnen raunen: «Wir heften uns an seine Sohlen – das furchtbare Geschlecht der Nacht.»