Als ich kürzlich den Coiffeursalon meines Vertrauens aufsuchte, um mich haartechnisch wieder einmal auf Vordermann bringen zu lassen, musste ich einige Zeit warten, bis die Reihe an mir war. Aus schierer Langeweile begann ich, mit mässigem Interesse die dort ausliegenden Intelligenzblätter der Regenbogen-presse durchzublättern.
Vanity press
In einem der Heftchen schwadronierte Heidi Klum davon, wie rundum glücklich sie mit der derzeitigen Konfiguration ihrer sekundären Geschlechtsmerk-male[1] und mit ihrem Liebesleben sei; Boris Becker, dass er sich seiner Freiheit erfreue und unheimlich gut drauf[2] sei und Helene Fischer, dass sie ihr Publikum ganz, ganz liebhabe. Die spontanen Herzensergiessungen dieser wunderbaren Menschen berührten mich zutiefst –
- und kontrastiv wurde mir wieder einmal meine eigene Bedeutungslosigkeit schmerzhaft bewusst.
Schritte zur Selbstwerdung
Aber dann – in einem psychologischen Fachblatt liess mich eine Überschrift aufhorchen: «Werde, der du bist; ein Selbsterfahrungskurs in drei Schritten.» Der Eisbergcharakter dieses Satzes beeindruckte mich, und ich beschloss, diese Schritte zur Selbsterkenntnis zu wagen.
Als erstes wurde mir klar, dass ich von der statischen Denke weg-, zur problem- und prozessorientierten Kontemplation übergehen muss. Ich muss eine höhere Bewusstseinsebene erreichen – mich freimachen vom täglichen Kleinkram. Es geht um Erkenntnis. Es geht um Spiritualität. Es geht darum zu ver-stehen, ob sich mein Phänotyp in Übereinstimmung mit meinem Genotyp befindet; ob mein aktueller Entwicklungsstand mit meinen Anlagen kongruent ist. Tägliche, bewusste Arbeit an meinem Karma ist gefragt.
- Es geht nicht um Sein, es geht um Gewordensein.
Memento mori
Oder ob ich mich spirituell neu kalibrieren muss, um dem Ziel der Erkenntnis näher zu kommen, um schliesslich im Kreis der Illuminierten Aufnahme zu finden. Wer bin ich? Ein ins Leben Geworfener auf dem Weg ins Nichts? Wie Jean-Paul Sartre & Co. dargelegt haben? Noch schlimmer – Søren Kierkegaards «Krankheit zum Tode» als Lebensweg und -ziel? Oder den drögen Verheissungen des Wittenbergers folgend: «Kyrie eleison!»?
So schleppen sich dann die Protestanten gemäss ihrem Credo «Wir sind nicht auf dieser Welt, um uns zu amüsieren!» mürrisch und bussfertig durchs Jammertal des Lebens, an dessen Ende sie einen Saumpfad nach oben erblicken: «Noch ist nicht alles verloren; dies ist der leuchtende Pfad, der ins ewige Leben führt!!» Vielleicht aber auch nur bis Golgatha …
Willy Millowitschs Frohsinnsvariante rheinischer Volksfrömmigkeit zum Mitschunkeln spendet auch nur so lange Seelentrost, bis der Karnevalsrausch verflogen ist:
- «Wir sind alle kleine Sünderlein, ʼs war immer so.»
Grenzen der Schulweisheit
Statt protestantischer Tristesse oder römisch/katholischer Weihrauch-Narkotisierung lieber Swedenborgs oder Cagliostros schillernde Zwischenwelten? Bei den Templern Zuflucht suchen? Den geheimen Sirenengesängen der Rosenkreuzer folgen?
Gibt es Kraftorte? Einen habe ich erlebt. In Rouen. Auf dem Marktplatz, wo sie Jeanne d’Arc verbrannt haben. Über diesem Ort schwebt etwas Magisches. Etwas, das man nicht beschreiben, nur erfahren kann.
- Ich sah nach oben und erkannte die Stelle, an der sich die Himmel aufgetan hatten, um Johanna von Orléans in die Ewigkeit aufzunehmen.
Die Inquisition konnte sie verbrennen, aber nicht töten. Die Heilige Johanna war ein elysisches Wesen, nicht von dieser Welt. Und ihre Kraft hat sich tief in den Ort gegraben, an dem sie die Erde verliess.
Demonstriert uns das Foucaultsche Pendel nur die Gesetze tellurischer Himmelsmechanik? Oder weist es auch ins Metaphysische, auf Verborgenes in der Welt hinter den Spiegeln?
Enthält der rätselhaft vertrackte Bauplan der Kathedrale von Chartres eine geheime Botschaft? Und die vollendete Geometrie der Cheopspyramide, die astro-nomische Entfernungen in mehrfach gebrochener Form reproduziert? Und Stonehenge? Und die Menhire? Überhaupt – die okkulten Wissenschaften…
- Hütet euch vor der Grossen Hure Babylon, die auf dem scharlachroten Tier reitet!
Die Weisen aus dem Abendland
Was würde Immanuel Kant in Königsberg von mir in meiner aktuellen Erscheinung denken? Ethisch gesehen. Nietzsche mit seinem Zarathustra ist mir fremd; zu viel von Macht und Herrschaftsgehabe; ich mag so etwas nicht. Theodor W. Adornos Meinung aus Sicht der Kritischen Theorie wäre wichtig.
- Adorno hat allerdings noch keiner verstanden – ausser Jürgen Habermas.
Einer, der noch nie etwas von der Frankfurter Schule und der «Dialektik der Aufklärung» gehört hat, ist übrigens der Hackl Schorsch, immerhin erfolgreichster deutscher Rennrodler!
Harte Landung in der Realität
Zu Hause angekommen, begab ich mich in einer 1. Phase vor den Spiegel und befolgte die weiteren Step-by-step-Anweisungen: «Sieh dir in die Augen.» Ich tat es. «Wer bist du?» Da läutete das Telefon. Der Garagist meines Vertrauens teilte mir mit, dass mein Wagen ihn gerade ultimativ aufgefordert habe, innerhalb der nächsten sieben Tage einen Motorölwechsel durchzuführen. Andernfalls drohe er mit einem kostspieligen Kolbenfresser auf Zylinder Nr. 4. Wir vereinbar-ten umgehend einen Termin.
Küchenpsychologie
Ich ging in die Küche und stellte Frau P. zur Rede: «Sieh mir in die Augen, Kleines. Wen siehst du?» – «Jemanden, der jetzt gleich ein Glas KNAX aus dem Keller holen wird. KNAX, die unvergleichlich gurkige Delikatesse im feinwürzigen 7-Kräuter-/Schalotten-Aufguss aus dem schwäbischen Traditionshaus Hengstenberg, dem langjährigen Gurken-, Sauerkraut- und Rotkohl-Lieferanten unseres Vertrauens. Hengstenberg – aus Gutem das Beste. Seit 1876.»
- Mit den Füsschen trapp, trapp, trapp – mit den Händchen klapp, klapp, klapp!
Der Weg ist noch weit
Wie soll ich auf meiner Pilgerreise ins Licht jemals vorankommen und mich zu einem spirituell wertvollen, mit sich und den kosmischen Kräften im Gleichge-wicht befindlichen Wesen entwickeln, wenn ich immer wieder brutal auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werde?
[1] NB: «Geschlecht» ist hier in seiner antiquiert binären Ausprägung zu verstehen. Heutzutage wäre es im Sinne der Identitätspolitik angemessen, unmittel-bar nach der Geburt mit dem Neugeborenen Rücksprache zu halten, welches der 46 derzeit zur Wahl stehenden Geschlechter dieses Lebewesen bevorzugen würde.
[2] Was seine Gläubiger vermutlich NICHT sind.