In memoriam – Holger Gronau

In memoriam – Holger Gronau

Als ich im letzten Jahrhundert, genauer gesagt im Oktober 1972, mein Studium an der J.W. Goethe-Universität in Frankfurt aufnahm und wie alle «Neuen» zunächst ziemlich desorientiert bis verzweifelt an der anonymen Riesenuni herumlief und mich fragte, ob ich da jemals durchblicken würde, stiess ich auf jemanden, den dies nicht übermässig zu belasten schien – Holger Gronau aus Nieder-Erlenbach.

Unsere erste gemeinsame Aktion, der noch zahllose weitere folgen sollten, bestand darin, dass wir die Restauration «Zum Schlagbaum» aufsuchten, um dort zunächst einige Halbe «abzubinden» (wie unsere Kommilitonin Sigrun S. dies zu nennen beliebte). Später verlagerten wir diese Tätigkeiten dann wahlweise zum Griechen in der Kiesstrasse bzw. in die Alt-Berliner Kneipe «Doctor Flotte» an der Bockenheimer Warte. Uns war wohl bewusst, dass wir als angehende Akademiker gut daran taten, gewisse tradierte studentische Verhaltensweisen einzuhalten!

An der Alma Mater

Es war unser aller grosses Glück, dass wir sehr schnell eine Heimat bei den Geographen fanden. Unsere Begeisterung für dieses naturwissenschaftliche Fach schmiedete uns zusammen und liess uns die Anonymität und das Unpersönliche anderer Fachbereiche überstehen. Die Geisteswissenschaften gingen ja noch – aber die Pädagogik: Jesses, Maria und Joseph… Prof. Rumpfs abstruse «Werkstatt allgemeine Didaktik» führte bei mir damals zu Depressionen und akuten Schlafstörungen. Holger ging es ähnlich. Der Geomorphologe und Bodenkundler Prof. Semmel traf weitaus besser unseren Geschmack; mit ihm rauften wir uns schnell zusammen, wobei es Holger viel besser als mir gelang, beim «Alten» gute Karten zu haben.

On the Road

Im August 1975 ging es auf die grosse Ostalpenexkursion. Holger legte Wert darauf, mit mir das Zimmer zu teilen. Unsere «Trias» wurde ergänzt durch Folker H., dessen trockenen Humor ich immer sehr geschätzt habe. In einem Hotel bekamen wir ein 3-Bett-Zimmer. Das 3. Bett erinnerte mich an meine glorreichen Aufenthalte auf Truppenübungsplätzen. Folker musterte traurig das Feldbett und fragte leicht bedeppert: «Ich brauch‘ ja wohl nicht zu fragen, wer auf der Pritsche schläft?» – «Nee, brauchste nich‘!», sprach Holger.

Im Gelände

Es kam der absolute Härtetest: Feldaufnahme und «gefechtsmässiges» Bohren auf Blatt 1:25000 Frankfurt a.M. Ost. Holger und ich wollten darüber unsere Examensarbeiten schreiben (was wir auch taten). Prof. Semmel fuhr mit uns hinter den Bieberer Berg, führte uns in die naturräumliche Situation ein und verabschiedete sich mit den Worten: «Meine Herren, dieses Gebiet hat den Vorteil, dass es kaum Literatur darüber gibt.» Was daran vorteilhaft gewesen sein soll, ist mir bis heute schleierhaft.

Im Grenzbereich

Juli 1976 – knallheiss. Wir bohrten und bohrten und bohrten… Morgens um 7 ging’s los. Wir trafen uns regelmässig vor der Käsmühle. Ich fuhr zum Parkplatz und sah schon von Weitem Holger mit dem Bohrwerkzeug neben seinem Käfer stehen mit einer Körpersprache wie Don Quijote, der Ritter von der traurigen Gestalt. Statt einer Begrüssung fauchte er mich an: «Geht die elende Schinderei wieder los!!»

Das Unverständnis der Ungebildeten

Im Untersuchungsgebiet gab es eine grössere Schrebergartenkolonie. Darin viele Rentner, die nichts mit sich anzufangen wussten. Sie beobachteten uns beim Bohren, schlichen sich an und fragten: «Ei, was mäscht ihr denn da?» – «Mir due bohre.» Nachdem wir das fünfmal gesagt hatten, kam der Sechste. «Was…?» – «Das verstehen Sie sowieso nicht. Das verstehen WIR ja kaum.» Und Nr. 7 beschied Holger zunächst ohne Worte, sondern deutete vage in Richtung Main. «Da soll sie hinkommen.» – «Wer soll wo hinkommen?» – «Die Staumauer. Die gesamte Region wird geflutet.» Aufgeregt brabbelnd verschwand der Rentner, um seinen Kumpeln die Schreckensnachricht zu überbringen. Dann wandte sich Bohrarbeiter Gronau mir zu und meinte: «DIE Typen sind wir erstmal los.»

Das Schweigen der Gräber

Nur wenige Jahre später unterhielten wir für einen überschaubaren Zeitraum einen experimentellen Textworkshop in Form eines Co-working spaces in meiner damaligen Oberräder Wohnung. Wir gaben diesem Unternehmen den Namen «Das didaktische Cockpit». Den dort entstandenen selbstreferentiellen Text habe ich mit Holgers ausdrücklichem Einverständnis unter meinem Namen in einer strikt limitierten, handsignierten Liebhaberausgabe veröffentlicht. Bei der von uns anvisierten Zielgruppe war das Opus wider Erwarten sogar ziemlich erfolgreich; ich selbst würde dieses Traktat in Bezug auf seinen Rang innerhalb meines Gesamtwerks allerdings eher der Gruppe der Apokryphen zurechnen. Bemerkenswerterweise hat Holger seine letzte Ruhestätte auf dem Waldfriedhof Oberrad gefunden, keine 800 m Luftlinie vom Ort unserer damaligen konspirativen Tätigkeit entfernt. Er hat das Geheimnis dieser Aktion mitgenommen auf seine Reise ins Reich der Toten.

R.I.P.

Es gibt noch unendlich viele Geschichten, die ich von Holger erzählen könnte. Zum Beispiel, wie er in seiner Zeit als Deutschlehrer meinen «Sebastian» im Unterricht behandelte und mir anschliessend Live-Auftritte bei seinen Schülerinnen und Schülern verschaffte. Ich habe das immer sehr genossen. In den letzten Jahren vor seinem Tod trennten sich unsere Wege etwas. Ich weiss nicht, warum. Man muss im Leben auch nicht alles verstehen. Manchmal habe ich Holger um seinen zupackenden Pragmatismus beneidet, manchmal fand ich, dass er mir sehr nahe kam. Ich lasse selten jemanden in meine Seele blicken.

  • Eins aber ist sonnenklar: Er wird mir fehlen; Holger Gronau – das Urgestein aus der Wetterau

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