Verehrtes Publikum
Hört man die sprachlichen Äusserungen, die einen tagtäglich umringen, so ist kaum vorstellbar, dass es einmal üblich war, Heranwachsende grammatische Korrektheit und stilistisches Know-how zu lehren. Während heute Wikipedia Wissen für alle auf Servern deponiert, war es früher verbreitet, Bücher zu lesen und deren Inhalte in den eigenen Neuronen zu speichern.
Was «Bücher» sind? Das sind vergilbte Papierbündel, die von Pappdeckeln umschlossen sind. Das Innere dieser Gebilde heisst «Seiten». Auf Seiten befinden sich Zeichen, die man «Buchstaben» nennt. Buchstaben fügen sich auf wundersame Weise zu «Wörtern». Gruppierte Wörter ergeben «Sätze». Nach welchen Gesetzmässigkeiten diese Gebilde gegliedert werden, wird an Universitäten in Fachbereichen mit so merkwürdigen Namen wie «Linguistik» untersucht. Wir haben es hierbei mit akademischen Elfenbeintürmen zu tun – regelrechten Auslaufmodellen, da die Zukunft der KI gehört.
Im Ablauf meiner Sozialisation durfte ich nicht nur auf Bücher, sondern auch auf die hohe Sprachkompetenz meiner Mutter zurückgreifen. Meine Mutter war sozusagen die Kultusbeauftragte der Familie. Ihre Unterweisungen erfolgten gewöhnlich anhand praxisbezogener Beispiele.
Wer annimmt, Deklinationsregeln seien theoretisch, dem wurde nie das Vergnügen zuteil, mit meiner Mutter einen Metzgerladen aufzusuchen. Einmal waren wir dort, um Gehacktes (norddt. für «Hackfleisch») einzuholen. Ich sagte zum Schlachter (norddt. für «Metzger»): «Geben Sie mir bitte 500 g vom Gehacktes.» – «500 g vom Gehackten», korrigierte meine Mutter. Woraufhin ich sagte: «500 g Gehackten bitte». Dies trug mir einen Basiliskenblick meiner Frau Mutter ein, während der sichtlich irritierte Schlachter äusserte: «Was denn jetzt? 500 g pro Kopf, also 2 Pfund total oder 1,5 kg?»
Wobei es ihm «wumpe» (berlinisch für «egal») war, ob die Bestellung im Dativ oder Akkusativ und unter Missachtung der Rektion, welche die Präposition «von» auf das Nomen ausübt, erfolgte.