Obwohl ich in den vergangenen Jahren bereits mehrfach Gelegenheit hatte, darauf hinzuweisen, dass ich es als Autor nicht für meine Aufgabe halte, meine eigenen Texte zu interpretieren – sozusagen als mein eigener Exeget und Rezensent aufzutreten – werde ich immer wieder aus dem Publikum mit Fragen und Bitten dieser Art bedrängt.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle eine Ausnahme machen und meinem kürzlich verfassten autobiographischen Dreiteiler «Lehr- und Wanderjahre eines Schriftstellers»[1], der in der Neuen Fricktaler Zeitung im Rahmen meiner monatlichen Kolumne «Mensch, Peters!» erschienen ist, einige Randbemerkungen hinzufügen. Namentlich zu «… Schluss», dem dritten Artikel der Serie, der weite Teile der Leserschaft nach eigenem Bekunden völlig ratlos zurückliess, da der angekündigte TV-Auftritt des Protagonisten darin bestand, dass er nicht stattfand – stattdessen das Studio durch einen Kurzschluss ausser Gefecht gesetzt wurde. Eine Allegorie der Erfolglosigkeit oder einer der skurrilen Spässe des Herrn Schriftstellers, dessen Lebenselixier nach vielfachem eigenen Bekunden die Satire ist? Oder ein Sinnbild dafür, dass alles menschliche Tun letzten Endes zum Scheitern verurteilt ist?
Dem dritten Teil der Trilogie kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, als er erstmals den autobiographischen Gestus der Teile 1 und 2 – die eher eine Innensicht des Autors in Form einer partiellen Präsentation seiner Vitae repräsentieren –, nicht völlig aufhebt, aber um etwas erweitert, das man gemeinhin als den eigentlichen Sinn (oder zumindest eine ganz wichtige Facette) des öffentlichen Schreibens bezeichnet: Schlicht und ergreifend der Leserschaft sollte das Hauptinteresse eines Autors gelten, wenn dessen selbstverliebte Nabelschau ihm nicht dauerhaft den Blick nach aussen verstellt!
Sollte der Autor hingegen selbstreferentielle, hermetische Texte à la http://www.jan-peters.ch/leben-und-wirken-des-samuel-bruellhenne/ bevorzugen, dann sind solche Denk- und Interpretationsansätze per se Makulatur. Gehen wir andererseits einmal davon aus, dass einige Texte unseres Autors durchaus eine solche Öffnung zeigen – namentlich sein «Sebastian», der unisono als sein zugänglichstes Buch bezeichnet wird –, so wird ihm weder durchgehend Arroganz noch Geheimniskrämerei oder systematische Irreführung des Publikums vorzuwerfen sein.
Mit einem raffinierten Trick stellt der Urheber der «Lehr- und Wanderjahre»[3] diese gewünschte Öffentlichkeit schliesslich doch noch her, indem er sich im dritten Teil dieser Trilogie wagemutig in die Höhle des Löwen begibt und sich einem fiktiven Literaturclub aussetzt, der bei einem nicht näher bezeichneten Fernsehsender stattfindet.
Mit dem Titel der Titel der Sendung, «Schreiben müsste man können», wird die Mission des dritten Teils der autobiographischen Übung bzw. der TV-Bühne für deren Präsentation allerdings auch nicht gerade transparenter, jedenfalls nicht auf den ersten Blick:
- Was will dieses Sendeformat vermitteln?
- Ist es eine Schreibwerkstatt? Eine Fortbildung für des Schreibens Unkundige?
- Der Meister selbst erteilt der Zuhörerschaft weise Ratschläge, wie «man» schreibt?
- Oder eine literarische Castingshow, Deutschland sucht den Superschreiber?
Die Zusammensetzung der Jury ist so schrill wie realitätsnah – eine «Kunigunde von Jena und Auerstedt» (war da nicht mal was mit einem Napoleon Bonaparte und den Preussen?) und ein «Dr. Giesbrecht Müller-Bogenschütz» würden in den öffentlich-rechtlichen Medien nicht im Geringsten als Gestalten aus dem Kabinett des Dr. Caligari auffallen: Man vergleiche diese Dramatis Personae nur einmal mit den Zombies, die der wehrlosen Zuschauerschaft bei den ins Kraut schiessenden Talkshows unter der Rubrik «Experten» zugemutet werden…
Wenn Mechthild Bauerochse Ergriffenheit erzeugt, bleibt kein Auge trocken; sie ist für die Betroffenheits- und Achtsamkeitsgesellschaft zuständig. Die subtil zurückgenommene und stark verfremdete Lyrikerin Bauerochse[4] ist die schillerndste Figur, die der listenreiche Autor bislang geschaffen hat. Ihre erste Gedichtzeile kommt naiv und still, ja geradezu kontemplativ daher, um schnell einen Kipppunkt zu erreichen und unvermutet wie die über Stock und Stein holpernde Gotthardpost loszujubeln: «… lustig schmettert das Horn.» – Dies aber nicht expressis verbis in ihrem nur ansatzweise verlesenen Epos (die Moderatorin schneidet ihr abrupt das Wort in einer Weise ab, wie dies Anne Will mit Sarah Wagenknecht zu tun pflegt), sondern durch eine geradezu unwiderstehliche Ellipse, die jede im deutschen Liedgut bewanderte Leserin und jeder im deutschen Liedgut bewanderte Leser an dieser Stelle geradezu zwanghaft rezitieren muss, ob sie wollen oder nicht!
Dies alles ist mit einer solchen Raffinesse ins Werk gesetzt, dass man nur zutiefst staunen kann, wie sublim der Autor dieses Trompe-l’œil angelegt hat – Chapeau! Damit sickern sukzessive Ambiguitäten und Vielschichtigkeiten in die literarische Runde, denen weder der selbstherrliche hanseatische Grosskritiker noch die adlige Moderation Wesentliches entgegenzusetzen hätten.
Mit der von Fräulein Bauerochse scheinbar nonchalant in die Debatte geworfenen Gedichtzeile werden wir Zeitzeugen einer sich wie eine Aurora borealis ausbreitenden ephemeren Form innovativer patchworkartiger Elementarlyrik[5], deren Potentiale momentan bestenfalls erahnt werden können. Es bleibt spannend, dieses in den «Lehr- und Wanderjahren» getriggerte Genre aufmerksam im Auge zu behalten!
Der überforderten Kunigunde von Jena und Auerstadt fällt in ihrer rührenden Hilflosigkeit weiter nichts ein, als auf noch etwas anzuspielen, das im wahrsten Sinne des Wortes im Dunklen bleiben wird: «Wenn das Thema Schweizer Literatur fokussiert wird, kommen unvermeidlich Monumente wie Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, Friedrich Dürrenmatt & Co. aufs Tapet, dabei gibt es…»
Als die Rede dann endlich auf unseren Autor kommen soll, erlöschen die Lichter. Dies ist nun allerdings eine ziemlich heftige Schlussmetapher, an der sich die vom Autor brutal im Stich gelassene Leserschaft nun ohne weitere Unterstützung die Zähne ausbeissen darf.
Die «Lehr- und Wanderjahre» geraten durch den chaotischen Schlussakkord zu einer «Trilogie des Grauens», die dem Leser ein wie auch immer akzeptables Ende schlicht verweigert; von einen Happy End gar nicht erst zu reden! Was noch nicht einmal dargestellt wird, ist, wie die Fernsehsendung in Bezug auf den Autor wirklich zu Ende ging; die einbrechende Dunkelheit war nämlich noch nicht das Ende.
Es soll hier verraten werden: ER erhob sich, entnahm der Aussentasche seiner Werthertracht ein bunt illustriertes Quartheft und begann mit Tränen in den Augen aus der Zueignung seines neuesten Lyrikbandes «Der Wanderer über dem Nebelmeer» zu deklamieren:
- «Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl’ ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?»
* * *
[1] https://www.jan-peters.ch/neue-fricktaler-zeitung_mensch-peters/
[3] Ist der verdeckte Hinweis auf Goethe im Titel für bare Münze zu nehmen? Ist es Grössenwahn, Chuzpe oder eine perfekt getarnte Falltür, eine Art Potemkin’schen Dorfes? Whatever…
[4] Schimmert hier das Schicksal der bedauernswerten Bettina von Arnim als Vexierbild durch?
[5] In diesem Zusammenhang muss auch der durchweg negativ konnotierte Begriff «Plagiat» eine grundsätzliche Neubewertung erfahren.