Verehrtes Publikum
Früher wurde häufig die Meinung vertreten, Erziehung funktioniere nur, wenn die Zielgruppe pädagogischer Massnahmen einem mehr oder weniger hohen Druck ausgesetzt werde. Gleich vorab – ich bin nicht dieser Meinung. Und warum? Dies erklärt sich aus meiner Lebensgeschichte:
In meiner Jugend wurde mir die zweifelhafte Ehre zuteil, neun Jahre an einem konservativen Gymnasium zubringen zu dürfen. Dort wurde meine sonderbare Ansicht, Fantasie inspirierender als Befehl und Gehorsam zu finden, als Insubordination (= Rebellion) ausgelegt. Mein Mathematiklehrer hielt es für opportun, mich in eine Schublade mit dem Etikett «Störfaktor Nr. 1» einzusortieren.
Danach wurde ich zwecks Vaterlandsverteidigung für 18 Monate den Panzergrenadieren zugeteilt. Mein Ausbilder war der Hauptgefreite Feuerriegel, «der Mann, der barfuss Funken schlug». Sein Motto: «Wenn ich lache, lacht der Teufel!»
Perfekt ergänzt wurde er von Feldwebel Georg Frundsberg, genannt «Keule», der die auf dem Exerzierplatz angetretene Kompanie in der Lautstärke der Posaunen von Jericho zusammendonnerte: «Männer! Ihr werdet eine Menge bescheuerter Geschichten über mich hören. Eine davon ist, ich sei in einem Wolfsrudel aufgewachsen. Völliger Schwachsinn! Das waren keine Wölfe – es waren Werwölfe.»
Zwischen Sümpfen und Seen, weit im Osten eines Grossdeutschen Reiches, das auf 1000 Jahre angelegt war, aber nur 12 davon hielt, liegen inmitten tiefer masurischer Wälder riesige Betonklötze. Die Natur ergreift nach und nach Besitz von den Trümmern der «Wolfsschanze» und überzieht sie mit einem grünen Netz aus Lebendigem. Hier hauste in finsteren Tagen eine Kreatur, schlimmer als jeder Wolf.
In unseren heutigen skurrilen Zeiten, in der selbsternannte linguistische Wächterräte damit drohen, Karl Mays Winnetou wegen kultureller Aneignung in die ewigen Jagdgründe zu verbannen, sollte man sich auch einmal des grauen Untiers im grimmschen Rotkäppchen annehmen: Entweder, Isegrim wird vegan und frisst nur noch Pilze und Beeren – oder er fliegt hochkant aus dem Märchen raus.
